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Les Cahiers du Sud

Marseille ist das strahlende gewürfelte Wappen, das die Provence dem Mittelmeer entgegenhält. Hinter ihr liegt die alte Landschaft der Troubadoure und der Félibres. Bei Aix beginnt sie – steckt schon mitten drinnen in diesem Irrgarten bemooster Steinfontänen. Wasserzauber zieht sich durch die ganze Provence. Nirgends ist seine Inkarnation so unwiderstehlich wie im Jardin des Fontaines zu Nîmes. Arles ist die Schallmaske der provençalischen Fama. Von hier ging mit dem Ruhme Mistrals ihr erneuerter Name aus. All dem ist man in Marseille weit entrückt. Die Brandung eines Lebens, das hier durch Jahrhunderte, pausenlos wie das ozeanische, anschlägt, macht die griechische Landschaft um Aix vergessen. Wie immer stimmt das Hafenbild am Mittelmeer zur Muße, doch nicht zu träumender und dichtender, sondern zu selig dumpfer Betrachtung. Begreiflich, daß man hier wenig Buchläden findet. Wenige werden sie suchen – und dann vielleicht um einen Band der Marseillaiser »galéjades« zu kaufen, denkwürdiger Dicta des Marius und anderer Typen vom vieux port. Oder jemand kommt auf Eugene Montfort und nimmt mit irgendeinem seiner Romane (etwa der immer noch unübersetzten schönen »Belle Enfant ou l'Amour à quarante ans«) ein Bild dieser strahlenden Stadt in sich auf. Dies alles aber zeichnet nur Marseille und prägt es nicht. Darum bewirbt, in dem erneuerten Bewußtsein ihrer Leiter von diesem Hafen als dem größten Frankreichs, als eines europäischen Umschlagplatzes (wo selbst die neue Kathedrale bei der Mole von außen eher als einem Gotteshause einem Bahnhof ähnelt) sich eine neue Zeitschrift – die »Cahiers du Sud«. Eine alte Zeitschrift. Denn neu ist nur der Name und die Richtung. Im Jahre 1914, als sie anfing zu erscheinen, hieß sie »Fortunio« und heut wie damals ist Jean Ballard, der mit der Zeitschrift selber groß geworden ist, ihr Herausgeber. Er sagt mir: »Wir sind jetzt auf dem Wege zur großen Revue. Wir arbeiten nicht gegen Paris, sondern im Einvernehmen mit den Kameraden dort, doch unabhängig von dem modischen Betrieb der Hauptstadt. Wir lieben unsere Stadt mit Leidenschaft, aber wir pflegen nicht das Provençalische als solches. Uns geht es darum, für die wirtschaftliche Signatur der Stadt den Ausdruck in dem geistigen Bezirk zu finden. Die Formen dieses Ausdrucks können nicht von uns, den Eingesessenen, ganz allein geschaffen werden. Marseille ist eine höchst europäische Stadt. Europa wird an seinem Geistesbilde mitarbeiten, wie es das seit Jahrhunderten an seinem topographischen getan hat.« Und nun schlägt er die Hefte auf, in denen deutsche und englische, italienische und spanische Namen häufig den Ehrenplatz an erster Stelle haben. Nicht immer allbekannte Namen – denn ein Unternehmungsgeist, der gegen die Pariser Saturiertheit angenehm sich abhebt, hält nach dem »inédit« der Namen und Gedanken Ausschau. Und wie gewissenhaft dabei, bis in das Technische, verfahren wird, ersah ich aus der mustergültigen (und dabei anonymen) Übertragung von Ernst Blochs bedeutendem Versuche »Über das noch nicht bewußte Wissen«, mit dem das Augustheft eröffnet wurde. Alsbald erschien darauf der Essay auszugsweise in den »Nouvelles littéraires«, und so könnte denn eines Tages vielleicht der Name eines deutschen Philosophen sich von Marseille bis nach Berlin herumgesprochen haben. Im gleichen Sinne und weitab von binnenländischem Snobismus halten sich Referate über fremdes Schrifttum. Dicht neben seiner Rezension des Brechtschen »Baal« bespricht Marcel Brion die neuesten Reclambände. Und in Gemeinschaft mit Sauvage vom Pariser »Intransigeant« eröffnet er in den »Cahiers du Sud« eine Umfrage an die Leser im Ausland. »Wie stehen Sie zu den bisherigen Übertragungen von Werken Ihrer Muttersprache ins Französische? Und welche Werke wären, Ihrer Meinung nach, zu übertragen?« Von alledem war unter uns die Rede, während dicht neben uns der eine Korrektur las, ein anderer Briefe tippte und ein dritter, vierter, fünfter mit Fragen oder Manuskripten zur Redaktionssitzung kamen, deren Zeuge ich dergestalt wurde. So lernte ich den Stab des Leiters kennen: den Romancier Gabriel d'Aubarède, Pierre Humbourg, dessen große Studie über Giraudoux jetzt in allen Pariser Buchläden liegt, Bourguet und manchen anderen. Dies alles in dem hohen schönen Zimmer Jean Ballards, in das ich über düstere Treppen mich nicht leicht gefunden hatte. Ein Haus im alten Hafenviertel, 10 Quai du Canal: ein steinern eingerahmtes Stückchen Mittelmeer spiegelt die Fenster der Redaktion.