Mondnächte in der Rue La Boétie
Es ist im allerersten Augenblick, als betrete man ein Aquarium. An der Wand des großen verdunkelten Saales zieht es, von schmalen Gelenken durchbrochen, wie ein Band hinter Glas erleuchteten Wassers entlang. Das Farbenspiel der Tiefseefauna kann nicht brennender sein. Aber was sich hier zeigt, sind oberirdische, atmosphärische Wunder. An monderhellten Wassern spiegeln sich Serails, Nächte in verlassenen Parks tun sich auf. Man erkennt im Mondlicht das Schloß von Saint-Leu, in welchem man vor hundert Jahren den letzten Condé erhängt an einem Fenster aufgefunden hat. Irgendwo brennt hinter Gardinen noch Licht. Dazwischen fällt ein paarmal breit die Sonne ein: im lautren Strahle eines Sommermorgens sieht man in die Stanzen des Vatikan, wie sie den Nazarenern erschienen sein werden; unweit baut sich das ganze Baden-Baden auf, und wenn die Sonne nicht so blendend schiene, könnte man unter seinen Puppen vielleicht im Maßstab 1:10 000 Dostojewski auf der Kasino-Terrasse erkennen. Aber auch Kerzenlicht kommt zu Ehren. Wachslichter umstellen im dämmernden Dom als chapelle ardente den ermordeten Herzog von Berry; und Ampeln in den Seidenhimmeln einer Liebesinsel beschämen beinahe die rundliche Luna.
Es ist ein Experiment ohnegleichen auf die »mondbeglänzte Zaubernacht« der Romantik. Siegreich geht ihre edle Substanz aus jeder sinnreichen Prüfung hervor, der man ihren spezifischen Gehalt an Poesie hier unterwarf. Man denkt fast mit Erschrecken an die Gewalt, die sie in roherem, massiverem Zustand in den Zauberbildern der Jahrmärkte, in den Dioramen gehabt haben muß. Oder war diese Aquarellmalerei (auf einem Papier, das, beschabt und berieben, an manchen Stellen ausgeschnitten und unterlegt, endlich mit Wachs überzogen wurde, um die gewünschte Lichtdurchlässigkeit zu erhalten) nie volkstümlich, eine zu teure Technik? Man weiß davon nichts. Denn diese vierzig Transparente stehen völlig vereinzelt da. Man kennt nichts Ähnliches und hat, bis sie vor kurzem in einer Erbmasse sich fanden, selbst von den gegenwärtigen nichts gewußt. Es handelt sich um die Sammlung, die ein reicher Liebhaber – der Urgroßvater ihres jetzigen Besitzers – zusammenbrachte. Jedes Stück wurde eigens für ihn gefertigt. Näher oder ferner sollen große Künstler, wie Géricault, David, Boilly damit befaßt worden sein. Andere Sachverständige sind der Meinung, daß Daguerre, bevor er sein berühmtes Diorama schuf (das 1839, nach siebzehnjährigem Bestehen verbrannt ist), an diesen Tafeln mitgearbeitet hat.
Ob hier die größten Künstler beteiligt sind oder nicht, ist nur für jenen Amerikaner belangreich, der früher oder später die anderthalb Millionen Franken, um die die Kollektion zu haben ist, bezahlt. Denn diese Technik hat mit »Kunst« im strengen Sinne nichts zu tun – sie gehört zu den Künsten. Sie hat irgendwo ihre Stelle in jener vielleicht nur provisorisch ungeordneten Reihe, die von den Praktiken der Vision bis zu denen des elektrischen Fernsehens reicht. Im 19. Jahrhundert, als die Kinder das letzte Publikum der Magie waren, zogen sich diese Künste ins Spielerische zusammen. Ihre Intensität ist damit nicht geringer geworden. Wer sich die Zeit nimmt, vor dem Transparent des alten Bades Contrexeville zu verweilen, dem ist, als sei er oft und oft vor hundert Jahren diesen sonnigen Weg zwischen Pappeln entlanggekommen, habe die steinerne Mauer dabei gestreift – bescheidene magische Effekte zum Hausgebrauch, wie man sie sonst nur in seltenen Fällen, an chinesischen Specksteingruppen oder russischer Lackmalerei, erfährt.