Pariser Tagebuch
30. Dezember 1929. Kaum hat man die Stadt betreten, so ist man beschenkt. Vergeblich der Vorsatz, nichts über sie niederzuschreiben. Man baut sich den vergangenen Tag auf wie Kinder am Weihnachtsmorgen sich den Gabentisch wieder aufbauen. Auch das ist ja eine Art zu danken. Im übrigen halte ich mich an meine Veranstaltungen, eines Tages mehr zu unternehmen als das. Für diesmal aber verbieten mir eben sie, verbietet die Besonnenheit, die ich für jene Arbeit mir bewahren muß, der Stadt mich willenlos zu überlassen. Zum ersten Mal entweiche ich ihr, entziehe mich dem Stelldichein, zu dem der alte Kuppler Einsamkeit mich einlädt und richte es ein, daß ich an manchen Tagen vor Parisern die Stadt nicht sehe. Freilich – wie leicht ist es nicht, hinwegzusehen über diese Stadt! So leicht wie über Gesundheit und Glück. Unfaßlich, wie wenig sie insistiert. Es gibt wohl keine, in der sich weniger übersehen läßt, in der weniger übersehen wird, als in Berlin. Darin erscheint der organisatorische und technische Geist, der es im Guten und Schlechten beherrscht. Dagegen Paris. Wie sehr die Straße selber hier gewohntes, ja ausgewohntes Interieur ist, wieviel man tagtäglich, selbst in den vertrautesten Teilen, nicht sieht, wie vom rechten auf den linken Bürgersteig hinüberzuwechseln nirgends entscheidender ist – man muß Paris lange bewohnt haben, um das zu wissen. Woher diese Unscheinbarkeit, die an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Geringsten sich ausrichtet? Vielleicht aus einer uns sehr fremden Durchdringung konservativer und städtischer Denkungsart. Nicht nur der Aragon, der jenes Buch schrieb, ist ein »Paysan de Paris«, erst recht sind es der concierge, der marchand de quatre Saisons, selbst der flic. Sie alle Leute, die ihr quartier bebauen, stetig und friedliebend wie die Bauern. Sicher war die Baugeschichte der Stadt nicht weniger bewegt, nicht weniger voll von Gewalttat als andere. Wie aber die Natur an Burgen Wunden mit Grün heilt, so hat angesiedeltes, strotzendes Bürgertum die Zerrissenheit der Großstadt befriedet. Wenn manche abgelegenen Plätze so innig den Raum umfangen, als hätte eine Konvention von Häusern sie gestiftet, so hat der Sinn für Friedlichkeit und Dauer, der sie schuf, Jahrhunderte hindurch sich auf ihre Anwohner übertragen. Und all dies klang in der Begrüßung mit, mit der der alte Kassenvorstand meiner Wechselstube mich heut nach langem Fernsein empfing: »Vous avez été un moment absent« – ein Ruck, mit dem er meine Abwesenheit zusammenschnürte, wie einen Sack, in dem er die Ersparnisse dreier Jahre mir aushändigte.
6. Januar 1930. In den ersten Januartagen sah ich: Aragon, Desnos, Green, Fargue. Fargue tauchte im Bateau Ivre auf. Es gibt da drinnen Kommandobrücken, Bullaugen, Schallrohre, viel Messing, viel Weißlackiertes. Die neueste Mode: daß die boîtes de nuit von Damen der Aristokratie gehalten werden. So gehört diese einer Prinzessin d'Erlanger. Da der Ginfizz außerdem 20 Fr. kostet, so kann die Aristokratie nebenbei noch Geschäfte machen und dies mit um so besserem Gewissen, als sich an ihren Mixturen zum großen Teil Schriftsteller inspirieren, der Betrieb die geistigen Güter der Nation mithin mehrt. Dort also begegnete mir, lange nach Mitternacht, glutheiß, gewissermaßen aus dem Kesselraum auftauchend, Léon-Paul Fargue. Als er da plötzlich vor mir auftauchte, blieb mir nur Zeit, D., welcher neben mir saß, zuzuflüstern: »Der größte lebende Lyriker Frankreichs.« Abgesehen davon aber, daß Fargue in der Tat ein großer Lyriker ist, an diesem Abend lernten wir ihn als einen der bestrikkendsten Erzähler kennen. Er hatte kaum erfahren, daß ich mich mit Marcel Proust viel beschäftigt habe, als er seine ganze Ehre dareinlegte, das kolorierteste und zerrissenste Bild seines ehemaligen Freundes vor uns aufzurufen. Da war aber nicht nur die Physiognomie des Mannes, die erstaunlich in Fargues Stimme auflebte; nicht nur das laute exaltierte Lachen des jungen Proust, des Salonlöwen, der, am ganzen Körper geschüttelt, die weißbehandschuhten Hände vor den weitaufgerissenen Mund preßt, während sein viereckiges Monokel am breiten, schwarzen Band vor ihm hertanzt; nicht nur der kranke Proust, der in einem Zimmer, das sich vom Möbelspeicher eines Auktionshauses kaum unterschied, im tagelang ungemachten Bett, vielmehr in einer Höhle aus Manuskripten, beschriebenen und unbeschriebenen Blättern, Schreibunterlagen, Büchern, hauste, die sich zu Bergen türmten, in den Ritzen zwischen Bett und Wand sich verfingen, auf dem Nachttisch gestapelt lagen, – nicht nur diesen Proust rief er auf; er skizzierte die zwanzigjährige Geschichte dieser Freundschaft, die Ausbrüche rührender Zärtlichkeit, die Anwandlungen irrsinnigen Mißtrauens, dies »Vous m'avez trahi« à propos de tout et rien, nicht zu vergessen die denkwürdige Darstellung, die er von dem Diner und freilich auch von seiner eigenen Regie des Diners gab, zu dem er Marcel Proust und James Joyce, die sich dabei zum ersten und letzten Mal sahen, zu sich gebeten hatte. »Das Gespräch in Gang zu halten«, sagt Fargue, »hieß für mich eine Zentnerlast stemmen. Dabei hatte ich schon vorsorglich zwei schöne Frauen gebeten, um den Zusammenstoß etwas zu mildern. Aber das hinderte nicht; daß Joyce beim Fortgehen sich hoch und teuer verschwor, nie wieder den Fuß in ein Zimmer zu setzen, wo er dieser Figur zu begegnen Gefahr laufen könne.« Und Fargue ahmt das Entsetzen nach, das den Iren durchzitterte, als Proust von irgendeiner kaiserlichen oder prinzlichen Hoheit mit aufgerissenen leuchtenden Augen beteuerte: »C'était ma première altesse.« – Dieser frühe Proust vom Ende der neunziger Jahre stand am Beginn eines Weges, dessen Verlauf er selbst noch nicht absehen konnte. Damals suchte er die Identität im Menschen. Sie erschien ihm als das eigentlich Vergottende. So begann der größte Zerstörer der Idee der Persönlichkeit, den die neuere Literatur kennt. – »Fargue«, schreibt Léon Pierre-Quint im November 1929, »ist von denen, die schreiben wie sie sprechen, er spricht fortwährend Werke, die ungeschrieben – vielleicht aus Faulheit, vielleicht auch aus Verachtung für das Schreiben – bleiben. Anders als in Geistesblitzen, in Wortspielen, die einander ebenso zwangwie endlos ablösen, könnte er gar nicht reden. Paris, seine gottverlorenen kleinen Cafés, seine Bars, die Straßen und das Nachtleben, das kein Ende nimmt, liebt er kindlich. Er muß eine glänzende Gesundheit und eine höchst widerstandsfähige Natur haben. Tagsüber arbeitet er als Industrieller und nachts ist er unterwegs. Elegante Frauen, Amerikanerinnen, gehen mit ihm aus. Dieser Mann von annähernd fünfzig Jahren führt nachts, als könne es gar nicht anders sein, die Existenz eines Gigolos und zwingt alle, die er trifft, in den Bann seiner Rede.« Genau so habe ich ihn kennengelernt und so, unter einem kleinen Feuerwerk von Erinnerungen und Maximen, blieben wir zusammen, bis man uns um 3 Uhr heraussetzte.
9. Januar. Jouhandeau. Der Raum, in welchem er mich empfing, ist die vollendetste Durchdringung von Atelier und Mönchszelle. Eine ungebrochene Fensterreihe, zieht sich über zwei Wände. Außerdem Oberlicht. Dichte grüne Vorhänge überall. Zwei Tische, deren jeden man mit gleichem Recht als Arbeitstisch ansehen könnte. Vor ihnen Stühle wie verloren im Raum. Fünf Uhr abends; das Licht kommt von einer kleinen Krone und einer hohen Stehlampe. Gespräch über die Magie der Arbeitsbedingungen. Jouhandeau redet von den inspirierenden Kräften des Lichts, das von rechts kommt. Sodann viel Autobiographisches. Mit dreizehn, vierzehn Jahren bekommen zwei liebliche Schwestern, die in der Karmeliter-Nonnenschule seiner Vaterstadt leben, entscheidenden Einfluß auf ihn. Von da an umfaßt ihn der Katholizismus, der ihm vorher nicht anders denn als Gegenstand von Erziehung und Unterricht nahegekommen war. Daß er ihm mehr geworden ist, sagte mir beim ersten Blick in den Raum ein Kruzifix aus Porzellan überm Bett. Ich gestehe ihm aber, wie ich nach Kenntnis seines ersten Buches ganz im unklaren blieb, ob er den Katholizismus als Bekenner oder nur als Forschungsreisender – »explorateur« – darstelle. Dieser Ausdruck gefiel ihm sehr. Wie er mir so gegenüber saß, mit leiser Stimme eindringlich sprechend und lebhaft, eine sehr vornehme, etwas gebrechliche Erscheinung, lernte ich das Bedauern kennen, erst jetzt, da so viel seinen Welten gefährliche Kräfte in mir erwacht sind, ihm näherzukommen. Er fuhr fort von seinem Leben zu sprechen, besonders aber sprach er von der Nacht – es war die, die der Beisetzung Derouledes folgte – da er seine ganze Arbeit verbrannte, eine unendliche Menge von Notizen und Spekulationen, die ihm zuletzt als ein Hemmnis auf dem Wege zum wahren Leben erschienen waren; erst seitdem begann seine Produktion das Lyrisch-Spekulative zu verlieren. Erst seitdem formte sich die Welt dieser Personen, die eigentlich, wie Jouhandeau mir erzählt, alle der einen Straße seiner Heimatstadt entstammen, in der er wohnte. Es ist ihm wichtig, die Welt dieser Personen zu kennzeichnen: ein Kosmos, dessen Gesetz sich nur vom Mittelpunkt her erschließt. Dieser Mittelpunkt ist Godeau, ein heiliger Antonius redivivus, dem seine Teufel, Huren und Bestien aus der spekulativen Theologie kommen. – Weiter: »Was mich am Katholizismus am meisten fesselt, das sind die Häresien.« Jedes Individuum ist für ihn ein Häretiker. Und das Passionierende sind ihm die unabsehbaren individuellen Verzerrungen des Katholizismus. Oft stehen seine Personen, deren er eine große Zahl kennt die in seinen Büchern noch niemals auftraten, schon lange vor ihm, ehe sie ihm so greifbar werden, daß er sie darstellen kann; oft vergeht lange Zeit, ehe eine kleine Geste oder Wendung an ihnen ihm ihre besondere, eigenste Häresie kundgibt. Ich spreche zu ihm von der großartigen und abstrusen Verspieltheit seiner Menschen, deren Zerstreuung nicht mit den Gegenständen des täglichen Gebrauches, Messern oder Gabeln, Zündhölzern oder Bleistiften, sondern mit Dogmen, Beschwörungsformeln und Illuminationen hantiert. Mein Ausdruck »jouets menaçants« gefällt ihm sehr. Ermeline, Noëmie Bodeau kommen vor. Und Mademoiselle Zéline, deren Geschichte ich allegorisch im Bilde des Lasters darstellen möchte, das diese Frau nicht verführt, nein, im Nacken packt und die Betäubte auf dem Wege der Tugend voranstößt. Selbstverständlich, daß ich ihm meine Gedanken über die großartige erleuchtende Schilderung des Wahnsinns im »Marié du village« sage. Ein Kritiker hat den Verfasser mit Blake verglichen. Ich glaube, wie richtig das ist, erkennt man, wenn man an die Grausamkeit denkt, mit der Jouhandeau seine Figuren der religiösen Erfahrung aussetzt, eine Preisgegebenheit, die in den jähen Kurven seiner Sätze zum Ausdruck kommt. »Vos personnages sont tout le temps à l'abri de rien.« – Das Ende unseres Gespräches markierte die Stelle, die er mir in der schönen Luxusausgabe seines »Monsieur Godeau intime« aufschlug. Er bezeichnet sie selbst als den Angelpunkt des Buches, und es ist darin von dem Aufenthalt Gottes in der Hölle und von dem Kampfe mit ihr die Rede.
11. Januar. Frühstück mit Quint. Er plant ein Buch über Gide. Betonte, wie sehr die letzten Bücher von Gide das Publikum dekonzertiert hätten, wie gering – abgesehen von der »École des femmes« – ihr buchhändlerischer Erfolg gewesen sei. Das französische Publikum habe keinen Geschmack an der Debatte über sexuelle Fragen und stehe noch immer den retrousses des »Sourie« und der »Vie parisienne« näher als dem Phänomen Wilde. Von mir aus ist da zu sagen, daß die bemerklichste Schwäche in Gides Erörterung der Homosexualität sein Versuch ist, sie absolut als reines Naturphänomen zu statuieren, anstatt, wie Proust, fürs Studium dieser Neigung zum Ausgangspunkt die Soziologie zu nehmen. Aber auch dies hängt mit jener Konstitution des Mannes zusammen, die mir mehr und mehr ihre Formel im Kontrast seiner verspäteten Pubertät, seines gequälten und gespaltenen Naturells auf der einen Seite und der reinen, strengen und zeichnerischen Linie seiner Schriften auf der anderen zu haben scheint.
16. Januar. Théatre des Champs Élysées. Giraudoux' »Amphitryon 38«, das
einzige Stück, das Einen zur Zeit in Paris zum Theaterbesuche bewegen kann, da
der begabte Pitoëff seine Bühne mit einer Aufführung der »Verbrecher« belegt
hat. 38, das heißt, die achtunddreißigste Bearbeitung dieses Stoffes. Man
braucht dieses Wort nur ein wenig zu wenden und es enthält das Wesentliche der
Sache. In der Tat, Giraudoux hat die Sage als einen unerhört kostbaren Stoff
betrachtet, der in so vielen Händen nichts von seinem Wert verloren, durch
einen Anflug von Altersglanz ihn gesteigert, und nun dem Dichter die modische
Aufgabe gestellt hat, durch einen neuen eleganten Zuschnitt ihn auf
unerwartete Weise zur Geltung zu bringen. Man vergleicht das Stück mit dem
»Orpheus« von Cocteau, doch auch einer Neubearbeitung des antiken
Gegenstandes, und bemerkt, wie Cocteau den Mythos nach den neuesten
architektonischen Grundsätzen umkonstruiert, Giraudoux aber ihn modisch zu
erneuern versteht. Man hat Lust, die Proportion aufzustellen: Cocteau:
Corbusier = Giraudoux: Lanvin.
Wirklich hat das große Modenhaus Lanvin die Kostüme gestellt, und die
Darstellerin der Alkmene, Valentine Tessier, spielt eine Rolle, in der die
Rüschen, Schärpen, Volants und Fichus ihrer Roben mindestens ebenso begabte
und lebendige Partner sind wie Merkur, Sosias, Zeus und Amphitryon. Nimmt man
hinzu, daß die Moral, die so virtuos und verführerisch dem Beschauer sich
insinuiert, die Sache ehelicher Treue gegen alle olympischen Raffinements der
Erotik führt, so hat man die modische und konservative, mit einem Wort die
eminent französische Tendenz des Ganzen erfaßt. Nachdenklich geht man durch
eine dieser milden Winternächte nach Hause und ist den Kräften etwas näher,
die es bewirkt haben, daß diese Stadt jahrhundertelang die umfassendste
wirtschaftliche und geistige Organisation der Mode gewidmet hat, nimmt auch
von Giraudoux die Gewißheit mit, daß sie nicht nur die Frauen, sondern die
Musen kleidet.
18. Januar. Berl. Diese primitive Methode, die noch immer die beste ist: bevor man einen Unbekannten besucht, eine halbe Stunde in seinen Schriften lesen. Es war nicht umsonst. In »Mort de la Pensée Bourgeoise« stieß ich auf diese Stelle, die ihr Licht nicht nur auf Berl voraus, sondern auf mein Gespräch mit Quint, über Lautréamont, zurückwarf. Diese Stelle über Sadismus: »Was lehrt denn das Werk von Sade anderes, als zu erkennen, wie sehr ein wahrhaft revolutionärer Geist sich der Idee der Liebe entfremdet. Soweit seine Schriften nicht Verdrängungen darstellen, wie sie bei einem Gefangenen natürlich sind, soweit sie nicht aus der Absicht Anstoß zu erregen, hervorgingen – und an die glaube ich nicht bei Sade, denn das wäre bei einem Häftling der Bastille ein ziemlich albernes Vorhaben gewesen – soweit dergleichen nicht im Spiele ist, entspringen seine Werke einer bis in die äußersten logischen Konsequenzen entfalteten revolutionären Verneinung. Was wäre denn auch ein Protest gegen die Machthaber nutze, wenn man einmal die Naturbedingtheit des menschlichen Lebens mit allem was sie Empörendes mit sich bringt akzeptiert hat? Als wäre die ›normale Liebe‹ nicht das anstößigste aller Vorurteile! Als wäre die Zeugung etwas anderes als die nichtswürdigste Manier, den Grundplan des Universums zu unterschreiben! Als wären die Naturgesetze, denen Liebe sich unterwirft, nicht tyrannischer und hassenswerter als die sozialen. Der metaphysische Sinn des Sadismus besteht in der Hoffnung, die Revolte des Menschen werde eine so gewaltige Intensität gewinnen, daß sie für die Natur den Zwang bedeute, ihre Gesetze zu wandeln, daß angesichts der Entschlossenheit aller Frauen, die Unbill der Schwangerschaft, die Gefahren und Schmerzen der Entbindung nicht mehr länger zu dulden, die Natur sich genötigt sehe, auf andere Wege zur Erhaltung der Menschheit auf der Erde zu verfallen. Die Kraft, die zu der Familie oder zum Staate ›nein‹ sagt, muß ›nein‹ auch zu Gott sagen und genau so wie die Anordnungen des Beamten und des Priesters muß das alte Gesetz der Genesis übertreten werden: ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen; in Schmerzen sollst du gebären‹, das Gesetz, das nicht hervorgerufen zu haben, das erduldet zu haben, Adam und Evas Verbrechen ausmacht.« – Und nun im Zimmer, das der Verfasser bewohnt: niedrige Sitze, von einem Schreibtischstuhl abgesehen. An der Schmalseite rechts ein Aquarium, das man beleuchten kann. Über dem Aquarium ein Gemälde von Picabia. Alle Wände grün bespannt, mit Goldleisten eingefaßt. Die Regale mit grünem Leder bezogen: Courier, Sainte-Beuve, Balzac, Staël, Tausend und eine Nacht, Goethe, Heine, Agrippa d'Aubigné und Meilhac und Halévy. Nicht schwer zu merken, daß er zu den Menschen gehört, die nur auf ihr Lieblingsthema gebracht sein wollen und dann, ohne viel Unterbrechung zu dulden, was sie zu sagen haben, memorieren. Jetzt handelt es sich in der Fortführung seines polemischen Werks für ihn vor allem darum, die Pseudoreligiosität des Bürgertums aus den letzten Schlupfwinkeln zu vertreiben. Als solche sieht er aber weder den Katholizismus mit seinen Hierarchien und Sakramenten noch den Staat an, sondern den Individualismus, den Glauben an die Unvergleichlichkeit, an die Unsterblichkeit des Einzelnen, die Überzeugung, das eigene Innere sei der Schauplatz einer einmaligen, nie wiederkehrenden tragischen Handlung. Die modischste Form dieser Überzeugung erblickt er im Kultus des Unbewußten. Daß er in dem fanatischen Kampf, den er diesem Kultus ansagt, – das heißt dem Surrealismus, welcher ihn zelebriert – Freud auf seiner Seite hat, das wüßte ich, auch wenn er es mir nicht versichert hätte. Und mit einem Blick auf das »Grand Jeu«, die Zeitschrift einiger dissidenter Glieder der Gruppe, die ich gerade erstanden hatte: »Seminaristen sind das, weiter nichts.« Nun einige merkwürdige Andeutungen über den Lebensstil dieser jungen Leute; den refus, wie Berl sagt. «Wir können übersetzen: die Sabotage. Ein Interview zu versagen, eine Mitarbeit abzulehnen, ein Foto zu verweigern, gelten ihnen für ebensoviel Beweise ihres Talents. Berl setzt das auf sehr geistvolle Art mit dem eingewurzelten Hang zur Askese, der dem Pariser eignet, in Verbindung. Andererseits spukt hier noch die Vorstellung vom verkannten Genie, die wir bei uns so gründlich zu beseitigen im Begriff stehen. Der raté hat hier noch eine Gloriole und der Snobismus steht im Begriffe, sie ihm neu zu vergolden. So jene Finanziers, die einen Klub zum Ankauf von Gemälden gründen und sich verpflichten, sie nicht vor Ablauf von zehn Jahren wieder auf den Markt zu bringen. Hauptgrundsatz: Für kein Gemälde dürfen mehr als 500 Frank bezahlt werden. Wer teurer ist, der ist schon reüssiert; wer reüssiert ist, taugt nichts. Ich höre ihm zu, ich widerspreche ihm nicht. So ganz unverständlich aber ist mir weder die Haltung jener jungen Leute noch dieser alten Snobisten. Wie viele Prozeduren gibt es nicht, als Künstler zu reüssieren und wie wenige darunter haben mit Kunst das geringste zu tun!
21. Januar. M. Albert. D. morgens bei mir im Hotel, bittet mich, den Abend mir freizuhalten. Wird mich um sieben abholen, mich bei M. Albert einführen. Wird, wie er sagt, M. Albert in dessen Etablissement aufsuchen. Schildert das als äußerst bemerkenswert. Nun ist dieses Etablissement – eine Badeanstalt im Quartier Saint-Lazare – bemerkenswert in der Tat. Aber alles andere als pittoresk. Die ernstlichen, wahren, das ist die sozial gefährdenden Laster, gebärden sich bescheiden, vermeiden, selbstverständlich, jeden Anschein von Betrieb, können geradezu etwas Rührendes annehmen. M. Alberts Freund Proust dürfte darum gewußt haben. Die Atmosphäre dieser Badeanstalt daher schwer darzustellen. Etwa: Wand an Wand zur Familie aber in ihrem Rücken wie alle echten Laster. Wirklich ist das Auffallende, und zwar den ganzen Abend über, die lautere, familiäre Vertraulichkeit dieser Jungen, zu der ihre erstaunliche franchise in keinem Gegensatz steht. Die jedenfalls, die ich da sah, haben noch in der ausgefallensten, preziösesten Art sich zu geben eine Naivität:, eine jungenhafte Aufsässigkeit, Verspieltheit und Trotz, die mir verstohlen meine Internatszeit vergegenwärtigen. – Zuerst der Hof, den man zu überqueren hat: eine Landschaft aus Pflastersteinen und Frieden. Wenige Fenster, die hier hinaussehen, erleuchtet. Aber Licht hinter den Milchglasscheiben von Alberts Büro und in einer Mansarde links, die zinnenhaft in den Himmel rage. Wir kamen zu dritt; Hessel und ich mußten es sich gefallen lassen, von D. als Proust-Übersetzer vorgestellt zu werden. Es bestätigte sich erstaunlich, was Hessel mir mehrere Tage vorher von ihm gesagt hatte: dies Meergotthafte, mit allem sich Mischende, gegen alles Verfließende. Übrigens haben das Porzellanpuppen in Figurengruppen am deutlichsten; Porzellan ist die kupplerischste Materie an Liebespaaren; D. stelle ich mir als einen kupplerischen Porzellanflußgott vor. Unter den Statisten ergab sich M S als einer Hauptrolle vorbehalten. Er trug durch seine Lebhaftigkeit und die offenbar bereits mehrfach erprobte Treffsicherheit seiner Anekdoten vor allem dazu bei, mir gewisse Episoden, gewisse Informationen im folgenden verdächtig zu machen. Und wenn er, kaum mit mir und Hessel ins Auto verstaut, etwas wie ein Verzeichnis oder einen Musterkatalog von Alberts Hauptgeschichten entwickelte, so glaubte ich mit einigem Unbehagen die Spuren einer auch hierher schon vorgeschobenen Tournée des grands-ducs zu entdecken. Hinter den Milchglasscheiben der Empfangsraum, durch Stores gegen alle anstoßenden und anstößigen Gemächer abgedichtet. Und M. Albert hinter dem Ladentisch oder der Kasse, kurz ein Arrangement aus Seiflappen, Parfüms, pochettes surprise, Badekarten und nuttigen Puppen. Sehr höflich, sehr diskret in der Begrüßung und auf das angenehmste nebenher durch Rückstände der Tagesarbeit beschäftigt. Proust hat ihn, wenn ich mich recht erinnere, 1912 kennengelernt. Damals wird er nicht älter als zwanzig Jahre gewesen sein. Und wie er heute aussieht, davon gibt es einen Begriff, wenn man sagt, man sieht es ihm an, daß er damals, als er Leibdiener beim Fürsten von Radziwill, wie früher bei dem Prinzen Orloff gewesen ist, sehr schön gewesen sein muß. Die vollständige Durchdringung von höchster Unterwürfigkeit und äußerster Dezision, die den Lakaien auszeichnet als mache es der Herrenkaste keinen Spaß, Wesen zu befehligen, die sie nicht zu Befehlshabern drillte – ist in seinen Zügen gewissermaßen in Gärung übergegangen, so daß er auf Augenblicke einem Turnlehrer ähnlich sieht. Das Programm des Abends war groß geplant. Jedenfalls gedachte man nach dem Diner die neue Freundschaft in M. Alberts zweitem Etablissement, dem Bai des Trois Colonnes, zu bekräftigen. Über den Ort des Diners schien man sich, vielleicht nur anstandshalber, kurze Zeit im unklaren zu befinden. Dann war man sich schnell über dies Lokal in der rue de Vaugirard einig, an dem Hessel und ich einmal vor drei Jahren vorübergegangen waren, ohne einen Blick hinein zu riskieren. Heute gab es da einige erstaunlich schöne Jungen. Darunter ein, vermutlich echter, indischer Prinz, der M. S. so lebhaft interessierte, daß er seinen Vorsatz, M. Albert zu besonders weitgehenden Konfidenzen zu bewegen, nicht ausführen konnte. Auch weiß ich nicht, ob sie für mich größeres Interesse gehabt hätten als einige, sehr nebensächliche, fast unwillkürliche Bemerkungen, die nebenher in unser Gespräch einflössen. Denn an der Frage, was sich ergeben würde, wenn einer die Passionen Prousts – unter denen gewisse einer berühmten Szene mit Mademoiselle Vinteuil sehr nahekommen – der Interpretation von seinen Werken dienstbar machte, bin ich kaum interessiert. Umgekehrt aber scheint mir das Werk eines Proust den Hinweis auf allgemeine, wenn auch sehr verborgene Charaktere des Sadismus zu enthalten. Und dabei gehe ich von Prousts Unersättlichkeit in der Analyse der kleinsten Vorfälle aus. Auch von seiner Neugier, die dem sehr nahe steht. Daß die Neugier in Gestalt der wiederholten, immer denselben Sachverhalt erbohrenden Frage ein Instrument in der Hand des Sadisten zu werden vermag – das gleiche Instrument, das Kinder unschuldig handhaben –, wissen wir aus Erfahrung. Prousts Verhältnis zum Dasein hat etwas von dieser sadistischen Neugier. Es gibt Stellen, an denen er das Leben mit seinen Fragen gewissermaßen zum äußersten bringt, andere, an denen er sich vor einem Tatbestand des Herzens aufstellt wie ein sadistischer Lehrer vor dem eingeschüchterten Kind, um es mit zweideutigen Gebärden, einem Ziepen und Kneifen, das zwischen Liebkosung und Quälerei liegt, zur Preisgabe eines geargwöhnten, vielleicht nicht einmal wirklichen Geheimnisses zu zwingen. In diesem Einen jedenfalls konvergieren die beiden großen Leidenschaften des Mannes, die Neugier und der Sadismus: bei keinem Befunde sich irgend beruhigen zu können, in jedem Geheimnis eingeschachtelt ein kleineres, in ihm ein noch winzigeres und so weiter bis ins Unendliche zu wittern, wobei mit abnehmender Größe die Bedeutung des Aufgespürten sich steigert. – Das ging mir durch den Kopf, während M. Albert mir den Entwicklungsgang ihrer Bekanntschaft skizzierte. Man weiß, daß Proust ihm einige Zeit, nachdem sie einander kennengelernt hatten, eine Maison de Rendezvous einrichtete. Diese Gründung war für den Dichter pied-à-terre und Laboratorium zugleich. Hier unterrichtete er sich, wohl auch durch Augenschein, über alle Spezialitäten der Homosexualität, hier wurden die Beobachtungen gemacht, die er später in der Schilderung des gefesselten Charlus verwertete, hierhin stiftete Proust die Möbel einer verstorbenen Tante, um ihr unziemliches Ende als Ameublement eines Bordells in »A l'ombre des jeunes filles en fleurs« zu beklagen. – Es wurde spät, ich hatte alle Mühe, M. Alberts schwach artikulierende Stimme aus dem Lärm eines Grammophons herauszufiltern, das eine elegische Schönheit, die, weil sie ein Loch im Hosenboden hatte, nicht tanzen konnte, und durch die erfolgreiche Rivalität des indischen Prinzen gekränkt wurde, andauernd mit neuen Platten versorgte. Wir waren zu müde, M. Albert Gelegenheit zu einer Revanche chez lui – das heißt in den Trois Colonnes – zu geben. D. brachte uns im Auto nach Hause.
26. Januar. Félix Bertaux. Seinem meridionalen Aussehen zum Trotz ist er Lothringer. Hat aber vermutlich französisches Blut. Aus der Zeit, da er ein junger Lehrer in Poitiers war, diese hübsche Geschichte: Die Action française veranstaltete – es war vor dem Krieg – dort einen Verbandsabend. Bertaux war mit einigen dissidenten Freunden erschienen. Nach dem Werbevortrag des Referenten fordert der Versammlungsleiter die Andersdenkenden zur öffentlichen Stellungnahme auf. Groß ist Bertauxs Erstaunen, als niemand sich meldet. Kurz entschlossen springt er von seinem Platz am äußersten Ende des Saales auf, durchstürmt den Raum bis zum Podium mit Riesenschritten und behauptet dreiviertel Stunden lang die Tribüne. Seine Rede ruft in diesem Publikum von Mitläufern der Action française einen völligen Umschwung hervor. »II a renversé la salle« wie man sagt. Und das Nachspiel am folgenden Tage, in seiner Klasse. Er ist im Begriff, etwas an die Tafel zu schreiben und läßt dabei ein Stück Kreide fallen. Zehn Jungen stürzen aus den Bänken, um es ihm aufzuheben. Bertaux stutzt, will genauer zusehen und läßt, und jetzt nur scheinbar aus Versehen, wieder etwas hinfallen. Diesmal zwanzig Jungen, die aufspringen. So stürmische Sympathien hatte ihm seine Rede vom Abend vorher erobert. Er könnte die glänzendste politische Karriere machen, Präfekt, Abgeordneter werden. Er zieht es aber vor, in seinen Mußestunden an einem französisch-deutschen Lexikon zu arbeiten, das ihn schon seit fünfzehn Jahren beschäftigt, und von dem man sich sehr viel verspricht. Unser Gespräch drehte sich vor allem um Proust. Proust und Gide – im Jahre 1919 habe ihre Rangfolge einen Augenblick fraglich erscheinen können. Für Bertaux sei sie es aber auch damals nicht gewesen. Die kanonischen Einwände und Reserven: daß er, Proust nämlich, die substance humaine nicht bereichert, den concept de l'humanité nicht erhöht und geläutert habe. Bertaux zitiert den Vergleich, mit dem Gide Prousts Verfahren dem Alltag gegenüber kennzeichnet: Ein Stück Käse unter dem Mikroskop; man sagt sich »Eh bien, c'est ça ce que nous mangeons tous les jours?!« – Ich: Gewiß, er hat den Menschen nicht gesteigert, sondern nur analysiert. Seine moralische Größe aber liegt in einem ganz anderen Felde. Er hat mit einer Leidenschaft, die kein Dichter vor ihm gekannt hat, die Treue zu den Dingen, die unser Leben gekreuzt haben, zu seiner Sache gemacht. Treue zu einem Nachmittag, einem Baum, einem Sonnenflecken auf der Tapete, Treue zu Roben, Möbeln, zu Parfüms oder Landschaften. (Ich hätte bemerken sollen, daß die Entdeckung des letzten Bandes – daß die Wege nach Guermantes und Meseglise sich verschlingen allegorisch die höchste Moral, die Proust zu vergeben hat, einschließt.) Ich gebe zu, daß Proust, im Grunde, peut-être se range du côté de la mort. »Jenseits des Lustprinzips«, das geniale Alterswerk Freuds, ist wahrscheinlich der grundlegende Proust-Kommentar. Mein Partner will dies alles einräumen, bleibt aber überaus spröde, se range du côté de la santé. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, wenn Proust eine Gesundheit, in seinen Werken, gesucht und geliebt hat, so ist es jedenfalls nicht die tüchtige des Mannes, sondern die schutzlose und zarte des Kindes.
4. Februar. Adrienne Monnier. Kurz nach drei öffne ich die Tür »Aux amis des livres« 7, rue de l'Odéon. Ich fühle einen gewissen Unterschied von andern Buchhandlungen. Gewiß dürfte dies kein Antiquariat sein. Adrienne Monnier scheint sich nur mit neuen Büchern zu beschäftigen. Aber es sieht doch weniger bunt, weniger bewegt oder zerfahren aus als in andern Läden. Ein warmer und blasser Elfenbeinton liegt über den breiten Tischen. Vielleicht kommt er von den transparenten Schutzumschlägen, die viele Bücher – alle modernen Erstausgaben, alle Luxusdrucke – hier tragen. Ich gehe auf die Frau zu, die mir zunächst ist, auf diejenige zugleich, von der es die größte Enttäuschung der flüchtigen, oberflächlichen Erwartung, hier die Bekanntschaft eines hübschen jungen Mädchens zu machen, wäre, wenn dies Adrienne Monnier sein sollte. Eine breite, blondhaarige Frau mit sehr klaren blaugrauen Augen, die ganz in einen derben grauen Wollstoff von nonnenhaftem Zuschnitt gekleidet ist. Vorn ist das Kleid mit Knöpfen in eingelegter Arbeit besetzt, altväterischer Besatz. Sie ist es. Sogleich fühle ich, einem der Menschen gegenüber zu sein, denen man nie respektvoll genug begegnen kann, und die, ohne dem Anschein nach auf solchen Respekt im geringsten zu rechnen, ihn dennoch keinen Augenblick abweisen oder bagatellisieren werden. Merkwürdig ist, daß diese Frau den Weg von Rilke, der doch solange in Paris gelebt hat, nur zweimal, wie sie sagt, gekreuzt hat. Ich könnte mir denken, daß er einem Wesen von solcher rustikalen Reinheit, daß er solch einem kosmischen Klostergeschöpf die tiefste Neigung hätte entgegenbringen müssen. Sie spricht im übrigen sehr schön von ihm und sagt: »Er scheint allen, die ihn etwas gekannt haben, dies Gefühl hinterlassen zu haben: mit allem was sie tun, innig verbunden zu sein.« Und schon zu seinen Lebzeiten habe er ihnen dies Gefühl ganz wortlos, durch sein bloßes Dasein geben können. Wir sitzen an ihrem schmalen, mit Büchern bedeckten Büro ganz im Vordergrunde des Ladens. Natürlich ist I.M.S. unser erster Gesprächsgegenstand; dann aber sind es die klugen und die törichten Jungfrauen. Sie spricht von den verschiedenen Gestalten der vierge sage – der von Straßburg, die ihr das Stück, das ich gelesen habe, eingegeben hat, der von Notre Dame de Paris, »qui est si désabusée, si bourgeoise, si parisienne – ça vous rappelle ces épouses qui ont appris à se faire à leur mari et qui ont cette façon de dire: Mais oui, mon ami; qui pensent un peu plus loin.« »Und jetzt«, habe Paulhan ihr gesagt, als er die »vierge sage« kennengelernt hatte, »werden Sie uns eine ›vierge folle‹ schreiben.« Aber nein! Die vierge sage, das ist immer, trotzdem die sieben beisammen stehen, Eine – die vierge folle aber, das sind viele, das wäre die ganze Bande. Im übrigen: ihre »servante en colère«, das sei ja schon eine vierge folle gewesen. Und nun ein Wort, das allein, hätte ich auch nichts von ihren Sachen gelesen, mir einen Einblick in das Wesen ihrer Welt gegeben hätte. Sie redet von der Unberührtheit der klugen, und wie in dieser Unberührtheit doch ein Schein, ein Schimmer von Hypokrisie nicht verkannt werden könne. Die klugen und die törichten Jungfrauen – gewiß, was sie da sage sei nicht im Sinn der Kirche – aber sie seien doch nur um ein Geringstes verschieden, seien einander unendlich nahe. Dabei machten ihre Hände eine so einschmeichelnde und so bezwingende Schaukelbewegung, daß ich ein Portal in der Phantasie sah, wo alle vierzehn Jungfrauen auf runden, beweglichen steinernen Sockeln ruhten, und ein beständiges Schaukeln aller gegeneinander den Sinn ihrer Worte auf das vollendetste darstellte. Ganz von selbst kamen wir auf diese Weise dazu, von coincidentia oppositorum zu sprechen, ohne daß dies Wort gerade gefallen wäre. Ich will auf Gide hinaus, von dem ich weiß, daß sie ihm nahegestanden hat oder steht, daß hier in diesen Räumen die berühmte Auktion sich abspielte, wo Gide, um zwischen sich und jenen Freunden, die seinem »Corydon« die Gefolgschaft versagten, die Trennung feierlich zu besiegeln, die Widmungsexemplare dieser Freunde aus seiner Bücherei versteigern ließ. »Nein, unter keinen Umständen –«, Gide will sie hier doch nicht genannt wissen. Gide hat zwar dies: die Bejahung und die Verneinung, aber hintereinander und in der Zeit, nicht in der großen Einheit, der großen Ruhe, in der sie sich am ersten noch bei Mystikern findet. Nun nennt sie, und das betrifft mich wirklich, Breton. Sie zeichnet Breton: eine spannungsreiche, explosive Natur, in deren Nähe das Leben unmöglich, »quelqu'un d'inviable, comme nous disons«. Aber wie außerordentlich ihr sein erstes surrealistisches Manifest erscheine, und wie herrliche Dinge sich selbst noch im zweiten fänden. Ich gestehe ihr, daß mir vor allem die okkultistische Wendung im zweiten auffiel und in wie unangenehmem Sinne. Auch sie will von der Verklärung der Kartenlegerinnen – in Bretons »Lettre aux voyantes« – nichts wissen. Sie erinnert noch die Zeit, wo Breton mit Apollinaire bei ihr in der boutique erschienen ist. Wie er in Ergebenheit gegen Apollinaire verging, seinen kleinsten Winken gehorsam war. »Breton, faites cela, cherchez ceci.« Viele Kunden erscheinen. Ich will diese Situation an der Tischkante nicht forcieren, fürchte auch, in ihrem Betriebe sie aufzuhalten. Dann aber fesselte mich wieder, wie sie sich meiner alten Idiosynkrasie gegenüber, die so heftig gegen Photos von Bildwerken reagiert, derer annahm. Zunächst scheint sie von meinem Satze frappiert, wieviel leichter ein Bild, vor allem aber eine Plastik, und nun gar Architekturen, im Photo sich »genießen« ließen als in der Wirklichkeit. Doch als ich weiter ging und solche Art und Weise mit Kunst sich zu befassen kümmerlich und entnervend nenne, wurde sie eigensinnig. »Die großen Schöpfungen«, sagt sie, »kann man nicht als Werke Einzelner ansehen. Es sind kollektive Gebilde, so mächtig, daß sie zu genießen geradezu an die Bedingung, sie zu verkleinern geknüpft ist. Im Grunde sind die mechanischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstechnik. Sie verhelfen den Menschen zu jenem Grade von Herrschaft über die Werke, ohne die sie nicht zum Genuß kommen.« Und somit tauschte ich ein Photo der vierge sage von Straßburg, welches sie am Anfang der Begegnung mir versprochen hatte, gegen eine Theorie der Reproduktionen ein, die mir vielleicht noch wertvoller ist.
7. Februar. »Mélo« von Bernstein im Gymnase. Die Architektur dieses Theaters begegnet heut nur noch in der Fassade alter Badeortkasinos. Wenn sie nun gar, wie zu Beginn und Ende, im Stile der Pariser Großen Oper beleuchtet ist – so nämlich, daß alle vorkragenden Bänder und Balken zu Rampen werden, von denen aus Scheinwerfer Säulen-Primadonnen ins rechte Licht setzen, während in Nischen über ihnen sich die Finsternis des nächtlichen Himmels wölbt – so ist die äußere Szene der Fassade der inneren auf der Bühne weit überlegen.
10. Februar. Adrienne Monnier zum zweiten Male. Inzwischen war mir die
Topographie der rue de l'Odéon deutlicher geworden. Ich hatte in ihrem
verschollenen Gedichtband »Visages« die schönen Verse auf ihre Freundin Sylvia
Beach gelesen, die ihr gegenüber die kleine boutique hat, in der der englische
Joyce die bewegte Geschichte seines ersten Erscheinens erfuhr. »Déjà«, hat sie
da gedichtet – »Déjà midi nous voit, l'une en face de l'autre / Debout devant
nos seuils, au niveau de la rue / Doux fleuve de soleil qui porte sur ses
bords / Nos Libraires.« Sie betritt den Laden gegen halb vier, genau eine
Minute nach mir, in einen grauen Flauschmantel eingehüllt, kosakisch und
großmütterlich, schüchtern und sehr bestimmt. Und wir sitzen noch kaum an
derselben Stelle wie neulich zusammen, so winkt sie jemandem durchs
Schaufenster. Er tritt ein. Es ist Fargue. Und da es ein himmlischer Tag über
Paris ist, etwas kalt mit Sonne, und wir alle voll von der Schönheit da
draußen sind, ich auch erzähle, wie ich um Saint-Sulpice herumschlenderte,
läßt Fargue fallen, da möchte er wohnen. Und nun erhoben sich beide zu einem
wundervollen Duett um die Priester von Saint-Sulpice, einem Duett, in dem ihre
alte Freundschaft den vollsten Klang gab. Fargue: »Ces grands corbeaux
civilisés«.« Monnier: »Jedesmal, wenn ich über den Platz gehe, der so schön
ist, aber über den es im Winter so schneidend weht, und die Priester kommen
aus der Kirche heraus, ist mir, der Sturm müsse sich in ihre Soutanen
verfangen und sie hoch in die Luft hinauftragen.« Man muß es gesehen haben,
dies schwarze Kommen und Gehen, Innehalten und Wallen dort im quartier, und
wie dies Priesterschweigen mit der blanken Stille der vielen librairien
zusammenkommt, um den Schlüssel zu diesem unvergleichlichen Viertel und vor
allem dem Platz, der sein Herz ist, zu haben. Dann nehmen die beiden ihre
freundschaftlichen Streitigkeiten wieder auf, die alt sein müssen. Fargues
Trägheit muß herhalten; daß er nichts schreibt. »Que voulez-vous, j'ai pitié
de ce que je fais. Ces pauvres mots, je les vois, à peine écrits, qu'ils s'en
vont, traînant, boitant, vers le Père-Lachaise.« Unser späteres Gespräch ist
beherrscht von der Joyce-Übersetzung, die sie verlegt hat und von der sie die
Umstände mitteilt, die sie zu so einem seltenen Gelingen führten. – Einiges
über Proust: Sie spricht von dem Widerwillen, den seine Transfiguration der
oberen Zehntausend in ihr erweckt habe, von dem rebellischen Protest, der sie
verhindert habe, Proust zu lieben, und dann mit Fanatismus, fast mit Haß, von
Albertine, die in so absurdem Maße ce garçon du Ritz – Albert – sei und dessen
vierschrötigen Körper, dessen männischen Gang sie jederzeit bei Albertine
durchfühle. Proust zu lieben, auch nur lieben zu wollen, habe sie dessen
moralische Person gehindert. Was sie sagt, macht mir nicht schwer, ihr von den
Schwierigkeiten zu sprechen, denen Proust in Deutschland begegnet, wie sehr
sie eindringende Studien über den Dichter verlangten, um überwunden zu werden,
wie wenig es solche Studien bei uns und im Grunde auch in Frankreich gebe. Ihr
Staunen über diesen Satz ist mir Anlaß genug, ihr mein Bild einer
Proust-Interpretation in wenigen Zügen zu zeichnen. Nicht die psychologische
Seite, nicht die analytische Tendenz, sondern die metaphysische seiner
Dichtungen ist, so erkläre ich ihr, noch immer unentdeckt geblieben. Die
hundert Tore, die den Eintritt in seine Welt eröffnen, sind unerschlossen: die
Idee des Alterns, die Verwandtschaft der Menschen mit Pflanzen, sein Bild des
neunzehnten Jahrhunderts, sein Gefühl für Moder, Rückstand und dergleichen.
Und wie ich mich immer mehr von dem Gedanken durchdringe, man müsse, um Proust
zu verstehen, überhaupt davon ausgehen, sein Gegenstand sei die Kehrseite, le
revers – moins du monde que de la vie même.
Am gleichen Nachmittag später Gespräch mit Audisio, dem ich über sein
»Heliotrop« vieles zu sagen weiß, was ihn freut. Er erzählt sodann die
Umstände, unter denen er an diesem Buche geschrieben hat, und das führt uns
auf die Arbeit im südlichen Klima. Wir sind uns über die Absurdität der
Meinung, die südliche Sonne sei eine Feindin geistiger Konzentration, völlig
einig. Audisio verrät seinen Plan, eine »Défense du soleil« zu schreiben. Wir
treten in eine Betrachtung der verschiedenen Arten mystischer Kontemplation
ein, die unter nördlichem Mitternachts-, südlichem Mittagshimmel erwachsen.
Jean Paul auf der einen Seite, auf der anderen orientalische Mystik. Die
romantische Haltung des Nordländers, der der Unendlichkeit im Weben seiner
Traumwelt sich anzugleichen versucht, und die Strenge des Südländers, der,
eher trotzig, mit der Unendlichkeit der Mittagsbläue in Konkurrenz tritt, um
etwas gleichermaßen Dauerndes zu schaffen. Ich muß bei diesem Gespräch an die
Zeit denken, da ich in Capri mitten im Juli die ersten vierzig Seiten des
Trauerspielbuches schrieb – nichts als Feder, Tinte, Papier, ein Stuhl, ein
Tisch und die Mittagshitze. Dieser Wettbewerb mit der unendlichen Dauer, deren
Bild der Mittagshimmel des Südens so zwingend heraufruft wie der Nachthimmel
das eines unendlichen Raums, macht den verschlossenen, konstruktiven Charakter
der südlichen Mystik, wie er zum Beispiel in den Sufischen Tempelbauten zu
architektonischem Ausdruck kommt.
11. Februar. Frühstück mit Quint. Ich hätte weniger unmittelbar das Gespräch
auf den neuesten Stand des Surrealismus geführt, wenn ich mir gegenwärtig
gehalten hätte, daß Kra – bei dem Quint Verlagsdirektor ist – das zweite
surrealistische Manifest herausbringt. Die Teile, die die Auseinandersetzung
mit früheren Angehörigen des Kreises betreffen, hält Quint für die
schwächsten. Im übrigen hätte ich seine Bestätigung, daß die ursprüngliche
Bewegung nun ihr Ende erreicht habe, kaum mehr nötig gehabt. Aber es ist der
richtige Augenblick, einige Tatsachen rückblickend sicherzustellen. Und da ist
das erste, von allem das rühmlichste: der Surrealismus hat mit einer
Gewalttätigkeit, die für Frankreich, für die Gesundheit seiner Intellektuellen
zeugt, auf jene Vermischung von Dichtung und Journalismus reagiert, die in
Deutschland zur Formel des Literaturbetriebs zu werden begonnen hat. Er hat
dem Gedanken der poésie pure, der im Akademischen zu versickern drohte,
demagogischen, beinahe politischen Nachdruck verliehen. Er hat die große
Tradition der esoterischen Dichtung wiedergefunden, die dem l'art pour l'art
in Wahrheit so fernsteht und für die Dichten eine geheime heilsame Praxis ist,
ein Rezeptschreiben. Er hat die innige Wechselbeziehung von Dilettantentum und
Korruption, die die Basis des Journalismus bildet, durchschaut. Er hat mit
anarchistischer Leidenschaft den Begriff des Niveaus, des anständigen
Durchschnitts in der Literatur unmöglich gemacht. Und von hier ist er weiter
gegangen, die Sabotage in immer breitere Gebiete des öffentlichen und privaten
Lebens vorantragend, bis endlich die politische Richtigkeit dieser Haltung,
ihre scheidende, mehr: ihre ausscheidende Gewalt offenkundig und wirksam
wurden. Aber wir waren uns weiter auch darin einig, daß eine der großen
Schranken der Bewegung die Faulheit der Führer gewesen ist. Wenn man Breton
begegnet und ihn fragt, was er macht, so antwortet er: »Rien. Que voulez-vous
que l'on fasse.« Es ist einige Affektation darin, aber auch viel Wahres. Und
vor allem gibt sich Breton keine Rechenschaft davon, daß Fleiß außer der
bürgerlich-philiströsen auch eine magische Seite hat.
Vorher Abschiedsgang die Champs-Elysées herunter. Die ebene Fläche der Tage ist wie ein Spiegel, der jetzt, da ich an ihre Ränder stoße, in allen Farben des Prismas aufleuchtet. Mit der Kälte zugleich ist der Frühling gekommen, und während man mit klopfenden Pulsen und geröteten Backen die Champs-Elysées wie einen schneeigen Berghang heruntergeschritten kommt, hält man mit einem Male vor dem Rasenstückchen hinter dem Théâtre Marigny inne, in welchem der Frühling wittert. Hinterm Théâtre Marigny wird etwas sehr Stattliches aufgebaut; ein hoher, grüner Zaun umgibt die Baustelle, hinter ihm ragen Gerüste auf. Da sah ich diesen Zauber: einen Baum, der innerhalb der umzäunten Stelle wurzelt und seine kahlen Äste seitlich ein wenig über den Zaun hinausstreckte. Diesen Ästen nun schmiegte der derbe Zaun sich mit durchbrochener Spitzenarbeit so innig an wie einem kleinen Mädchen die Halskrause. Mitten in der massiven Bautischlerei war diese Silhouette wie von der sicheren Hand einer Zuschneiderin gezeichnet. Die Sonne kam blendend von rechts, und wie die Spitze des Eiffelturms, meines lieben Sinnbilds der Rechthaberei, sich in dem Glanz beinahe auflöste, war sie das Bild der Versöhnung und Reinigung, die der Frühling heraufführt. Im Schein der Sonne schmolzen die Mietspaläste, die von weitem die Durchblicke in der rue La Boétie, der avenue Montaigne abgeschlossen, und wurden zu mächtigen Pasten Goldbraun, die der Demiurg auf die Palette Paris gedrückt hat. Und wie ich im Gehen meine Gedanken so kaleidoskopisch durcheinanderfallen fühlte – mit jedem Schritt eine neue Konstellation; alte Elemente verschwinden, unbekannte kommen herangestolpert; viele Figuren, wenn aber eine haftet, heißt sie »ein Satz« – da bildete unter Tausenden sich auch diese, auf die ich viele Jahre gewartet habe – der Satz, der das ganze Wunder, das die Madeleine (die echte, nicht jene proustische) mir vom ersten Augenblick an gewesen war, ganz umschloß: Die Madeleine ist im Winter ein großer Ofen, der mit seinen Schatten die rue Royale heizt.