Piscator und Russland
Erwin Piscator plant, wie wir erfahren, eine Arbeitsgemeinschaft mit der »Moskauer Association für das proletarische Theater« einzugehen. Piscator wird diesem Verband seine Texte, Bearbeitungen, Regiepläne, Photos usw. zugänglich machen und seinerseits von ihm über dessen Theaterpolitik auf dem laufenden gehalten werden. Wie wertvoll diese Beziehung sein kann und was sie bedeutet, wird aus den folgenden Angaben ersichtlich werden.
Die »Moskauer Association für das proletarische Theater« ist aus dem »Rapp« (»Moskauer Association der proletarischen Schriftsteller«), und zwar genauer aus Debatten über die Frage hervorgegangen, auf welche Art und Weise die Parole der »Kulturrevolution« sich im Theater auszuwirken habe. Die erste Schwierigkeit, auf die man hier stieß, liegt in der Tatsache, daß Rußland in der Bühne Stanislawskis noch heute eine höhere vorrevolutionäre Theaterkultur besitzt als die meisten Länder Europas. Die Auseinandersetzung mit ihr konnte also nicht unter der Hand mit ein paar Schlagworten geleistet werden. Sie rief vielmehr im Bereich der Regielehre wissenschaftliche Kontroversen hervor, die dem Marxisten aus der Philosophie geläufig sind. Vor allem auf eines verwiesen die Anhänger Stanislawskis: Der Marxismus erklärt den Menschen für bedingt durch die Verhältnisse, in denen er lebt. Nun untersuchet daraufhin den Realismus von Stanislawski! Beruht er nicht auf schärfster, detailliertester Wiedergabe der Umwelt, aus welcher die Figuren, die er auf die Bühne stellt, hervorgehen? – Hier war nun der Ort zu einer ersten grundlegenden Klarstellung. Man konnte, man mußte erwidern: Das Milieu, von dem ihr da redet, ist das der individualistischen Soziologie, der Milieutheorie Taines. Marx aber behauptet, der einzelne ist bestimmt durch die Klassenlage, die Lage der Klasse aber wiederum durch ihre Stellung im Produktionsprozeß. Stanislawskis Theater kennt folgerichtig keine Psychologie der Klasse, sondern nur die des Individuums, keine klassenkämpferischen, sondern nur klassenversöhnende Tendenzen. Und ferner: Es zeigt wohl die Epoche als Produkt des Menschen, aber es tut dies statisch, nicht dialektisch. Es zeigt wie sie ist, nicht wie sie geändert wird. Und dieser gleiche Ausfall der Dialektik ist es, dem seine Kritiker in der Technik der Inszenierung begegnen: einem Realismus, der nachahmt, ohne sich mit dem Nachgeahmten auseinanderzusetzen.
Mit anderen Worten: Die »Association für das proletarische Theater« wendet ihre kritische Front zunächst gegen Stanislawski. Sie wahrt aber ebenfalls ihre Freiheit gegenüber der Gruppe »Lew«, dem Theater Meyerholds, der Bühne Tretjakoffs, Majakowskis u. a. Die Kämpfe um »Lew« sind beinahe so alt wie die russische Revolution selbst. Eine gewisse Epoche bezeichnet das Jahr 1926, in dem der Anspruch dieser Gruppe, die revolutionäre Form an die erste Stelle zu rücken, ihr den Primat vor dem Inhalt zu geben, abgewiesen wurde. Die »Association für das proletarische Theater« ist der Ansicht, daß nun nach dieser Klarstellung die Öffentlichkeit eine wohlwollende Neutralität gegenüber dieser Bühne sich leisten könne, die ihre Experimente zum Teil ohne ideologische Fundierung, aber nicht ohne Glück und Fruchtbarkeit unternimmt. Sie sieht in ihr das Theater der kleinbürgerlichen radikalen Intelligenz, die nicht ganz abgestoßen werden soll. Denn im Augenblick sei die »rechte Gefahr«, die von den Positionen der alten Bourgeoisie her droht, dringender als die »linke« dieser radikalen Mitläufer.
Damit ist die Stellung der Association jenseits von beiden Gruppen bezeichnet. Sie setzt sich vor, die neue nachrevolutionäre Bühne mit einem Geiste zu durchdringen, der die lebendigen Elemente aus dem Erbe der Theaterkultur der Schärfung und Erhellung des Klassenbewußtseins dienstbar macht. Und nun die Hauptsache: Solche Theater sind nicht nur die großen Moskauer Bühnen – das Theater der Revolution; MGSPS, das Gewerkschaftstheater; Proletkult –, sondern all die über Rußland verstreuten Dilettanten- oder Arbeiterbühnen, die Vertreter einer Bühnenkunst, die aus den Betrieben und der Tagespolitik unmittelbar hervorgegangen ist, und die wir als das »Theater der blauen Blusen« auch hier kennengelernt haben. Endlich die Bauerntheater. Das ist die breite Basis, auf welche die Association sich stützt. Es wird von höchstem Interesse sein, die Wechselwirkung zwischen diesem russischen Klub, in dem zum ersten Male alle am Theater Beschäftigten, Schauspieler, Regisseure so gut wie Hilfsarbeiter und Kritiker sich zusammenfinden, mit der deutschen Bühne zu verfolgen.
Man wird in diesem Überblick den Namen Tairoffs vermißt haben. Sein Theater hat in diesem Zusammenhange nichts zu suchen. Es gilt als das der neuen Bourgeoisie, des Nep.