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Paul Valéry in der École Normale

Man muß an die süddeutschen Stifte des Vormärz denken, um von den nüchternen Räumen der École Normale einen Begriff zu bekommen. Napoleon gründete dies Institut für eine Elite, um ihr bei aller Freiheit ihrer Studien die materielle Unabhängigkeit zu sichern. An dieser Schule ist 1911 Norbert von Hellingrath, der frühverstorbene unvergessene Editor Hölderlins, deutscher Lektor gewesen, auch sonst an ihr dem Deutschen sein Platz gesichert. Ihr eben jetzt verstorbener Bibliothekar Lucien Herr, Übersetzer des Goethe-Schiller-Briefwechsels, ist einer der besten Kenner der deutschen Geistesbewegung gewesen. Ein großer Teil des wissenschaftlichen Frankreich ist aus dieser Schule hervorgegangen. Pasteur, Taine, Fustel de Coulanges und viele andere sind in die Ehrentafeln eines »Festsaals« eingezeichnet. Die goldene Gravierung darauf ist der einzige Schmuck des kleinen, finstern, niedrigen Raumes. Darin nimmt Valéry auf eine halbe Stunde das Podium ein.

Langsam, sehr unauffällig geht er drauf zu. An diesem Körper baute ein architektonischer Wille, seine Gebärde steht zu der des Tänzers wie der Klang seiner Verse zu der der Musik, und Eleganz gibt der Erscheinung tausend geometrische Facetten. Sogleich frappiert und fasziniert ein Widerspruch: so glänzend dieses durchgebildete und strenge Antlitz, der seelenvolle Wuchs der alternden Gestalt zur Wirkung auf die Menschen ausgestattet ist, so sehr versagen sich ihr Blick und Stimme. Der Blick ist scharf wie eines Jägers, zielt aber, chthonisch abgeleitet, schräg nach unten und innen. Die Stimme klingend, genau, doch vernehmbar nur in Komplexen. Sie fordert, um gehört zu werden, Divination wie ein Text, um verstanden zu werden. Nicht einmal legt sie Ruhm, Alter, Wissen in die Waagschale, um auf die 60 oder 70 jungen Leute »richtunggebend« zu wirken. Valéry, dem, was Kanonisches vom »Dichter« heute noch in Kraft bleibt, eines sehr späten Tages wie von selber zufiel, hat niemals durch die »Stellungnahme« zu den Angelegenheiten seines Volkes, durch eine Führergeste darum geworben. Er tut es – einer der »Unsterblichen«, der er seit kurzem ist – auch heute nicht. Und so präzis er selber sich vom Symbolismus abzugrenzen sucht – Mallarmés Strenge, wenn nicht dessen Kühnheit lebt in ihm fort. Darum ist auch der kritische Unterton so bedeutsam, der hin und wieder durchbricht, wenn er aus Erinnerung an die große Zeit des Symbolismus erzählt.

Vor 40 Jahren hieß die große Präokkupation von ihnen allen: Musik. Buchstäblich zerschlagen (»littéralement écrasé«) verließ man jeden Sonntag das Concert Lamoureux in den Champs-Elysées, wenn man die großen Ouvertüren Wagners hatte über sich ergehen lassen. Was können jemals wir zustandebringen, das daneben aufkommt? so klang die große Tannhäuserbesprechung Baudelaires in einem jüngeren Dichtergeschlecht verzweifelt nach. Musik hat Töne, Tonleiter und Tonart: sie kann bauen. Was ist dagegen in der Dichtung Konstruktion? Fast immer simples Umspielen des logischen Aufbaus. Die Symbolisten suchen sprachphonetisch die Konstruktion von Symphonien nachzubilden. Und nachdem Mallarmé die Meisterwerke dieses Stils gelungen sind, geht er einen Schritt weiter. Er zieht die Schrift zur Konkurrenz mit der Musik heran. Dann führt er eines Tages Valéry als ersten vor das Manuskript des »Coup de dés«. »Sehn Sie es an und sagen Sie, ob ich verrückt bin!« (Man kennt dies Buch aus der posthumen Edition von 1914. Ein Quartband von wenigen Seiten. Scheinbar regellos, in sehr beträchtlichen Abständen, sind Worte in wechselnden Schrifttypen über die Blätter verteilt.) Mallarmé, dessen strenge Versenkung mitten in der kristallinischen Konstruktion seines gewiß traditionalistischen Schrifttums das Wahrbild des Kommenden sah, hat hier zum erstenmal (als reiner Dichter) die graphische Spannung des Inserates ins Schriftbild verarbeitet. So schlug die absolute Poesie im Extrem ins scheinbare Gegenteil um, was für den Moderantisten sie widerlegt, für den Denker sie nur bestätigt. Für Valéry vielleicht dennoch nicht ganz: »Der Finger kann wohl durch die Flamme streichen, aber nicht in ihr wohnen.«