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Wedekind und Kraus in der Volksbühne

Frank Wedekind: Frühlings Erwachen

An dieser Martinschen Aufführung war das grundsätzlich Interessante eine Akzentverschiebung. «Was da in Wendla und Melchior erwachte, war nicht mehr Frühling; so wenig regt er sich in diesen leidvollen, lärmenden Knaben und Mädchen wie in der trostlos verbauten Großstadt, mit welcher Caspar Neher sein vortreffliches Ingolstadt in den Schatten stellte. Das buschige Ufer, von dem sich Moritz Stiefel hinabgleiten läßt, ist senkrechte Kaimauer, der Heuboden, auf dem Wendla und Melchior miteinander zu schaffen haben, ein Hängeboden, und Hänschen Rilow macht dem Schulfreund sein Geständnis nicht mehr im Weinberg, sondern zwischen den Achsen und Radspeichen eines Zirkuswagens. Kurz, Martin hat den Kindern ihren großen Sachwalter, den Frühling, genommen. Der Erfolg hat ihm rechtgegeben. In den dreißig Jahren, die seit der Abfassung hingingen, sind diese Kinder mündig geworden. Aber auch das Stück ist gewachsen. Es steht größer, in sich vertrotzter und in sich verträumter vor uns. Und so hat es nicht nur auf sein schüchternes Frühlingsweben, sondern auch auf die provokatorische Geste verzichten können. Metapher und Tendenz sind im Vestibül des Naturalismus abgelegt worden. Nun tritt es mit seinem natürlichen und bisweilen Shakespeareschen Ernst in die Gegenwart. Unangekündigt, ohne zu klopfen. Es ist ganz normal und die Regie hat es richtig gefühlt, daß dieser Ernst sich mit dem unsrigen verbindet, dem die sexuelle Frage nur ein ungelenker Vorläufer der sozialen ist. »Unsinn! Die Berliner Rangen sind aufgeklärt! Darum muß Frühlings Erwachen in einer Kleinstadt spielen« hat man Martin entgegnet. Aber das ist es eben: Wedekind schrieb nicht die Moritat von den ahnungslosen Flegeln und Backfischen, sondern das Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen Naturkraft in der Kreatur. Und eine blinde Macht geht mit der andern: die frühe Sexualität mit dem Großstadtelend. Das gab dem Stück seine Atmosphäre. Unvergeßlich der Abend am Kai, von dem sie wie ein feuchter Nebel ins Publikum drang, während Moritz Stiefel mit Ilse seinen Diskurs hat. Viel Unzureichendes, offenbare Fehlbesetzungen, mußte man unterwegs hinnehmen, dann aber faßten, in der letzten Szene, Darsteller und Regie auf diesem Boden Fuß, wo er am heißesten ist. Wahrscheinlich sind die Worte des abgefallenen, von seinen Händen aufbewahrten Kopfes noch niemals so – so voll von resigniertem Heimweh nach dem Rumpfe – gesprochen worden wie von Peter Lorre. Und der Epilogos des Stücks, der vermummte Herr, ist zur Zeit, als er von Wedekind selber gegeben wurde, dem Autor nicht besser gerecht geworden als hier in der Person von Walter Franck. Aber nicht nur Epilogos des Stücks, sonderndes ganzen romantischen Dramas; den aufgeregten Autor, der bei Bernhardi, Grabbe, Tieck nur aus Neugier und um ins Publikum zu wittern, die Nase hinterm Drama heraussteckt, treibt hier die Liebe zu den eigenen Kreaturen auf die Bühne. Zum Begräbnis des Moritz Stiefel kommt er zu spät, aber immer noch zeitig genug, seinen Melchior zu retten. So kam Wedekind den Kindern zu Hilfe. Die vollendete Kraft und Gesundheit der Dichtung aber – und das sehen wir erst heute – ist, daß diese Kinder es ihm vergelten. Freud hat gelehrt, daß alle »Entartungen« des Geschlechtslebens nur verfrühte Triebfixierungen sind; der Sexus ist auf kindlichen Entwicklungsstufen stehen geblieben; Denkmäler, Spuren dieser Stufen sind die Perversionen. Die allzu krassen, allzu scharfen Masken dieser Kinder sind inzwischen Schutzgötter des Wedekindschen Sexus selber geworden. Sie stehen zum organischen und geistigen Gesicht des Toten. Sie sind in der langen, traurigen Unsterblichkeit seine Nothelfer.

Karl Kraus: Die Unüberwindlichen

»Der Zuhälter ist das Vollzugsorgan der Unsittlichkeit; das Vollzugsorgan der Sittlichkeit ist der Erpresser.« So hat Kraus vor fünfzehn Jahren geschrieben. Nun zeigt er, wie der Polizeipräsident Wacker im Bund mit dem Erpresser Barkassy das Erbe des Doppelaars übernimmt, nachdem er dessen ausgestopften, mottenzerfressenen Balg – Wien – in einem Blutbad gesäubert hat. Dem sieht man Arkus (Anagramm für Kraus) entgegentreten. Jedoch vor diesem Zauberschränkchen »Polizeipräsidium«, in dem er den Erpresser ahnt, steht er so machtlos wie wir im Variété vor der berühmten »Zaubertruhe Salomonis«, aus der sogleich – wir wissen es – das schöne Kind sich hebt, obwohl doch alle Türen offen standen, und wir das Innere spiegelklar durchschauten. So wird es wirklich. Arkus hat das Nachsehen. Zum Schluß operiert Barkassy nicht mehr heimlich, sondern jovial und lärmend im Blutpalaste. Die frostige Distanz zwischen ihm und Wacker ist einer ausgesprochenen Nibelungentreue gewichen.

Wacker ist die vollendete Verkörperung dessen, was früher in der Fackel »die Fibel« hieß. Also ganz und gar nicht der abstoßende Ausbeuter, den George Grosz darstellt, und von dem die Proletarische Bühne die Maske des »Bourgeois« entlehnte. Wacker ist ein soignierter Herr; ein Würdenträger und dennoch Mensch; die Güte und die Innigkeit persönlich sind in den Dienst der Infamie getreten, um diesen Typus möglich zu machen, und wahrscheinlich mußte ein Wiener kommen, um ihn in jedem Zuge so schlicht und regelrecht zu treffen, wie es Peppler gelang. Es war eine unübertreffliche Leistung, und sie stellte ihn in den Mittelpunkt einer Aufführung, die auf außerordentlich hohem Niveau stand. Selten ist man bei den Berliner Veranstaltungen von Karl Kraus einem so unforcierten Enthusiasmus begegnet. Und wenn schließlich dennoch in den Applaus sich etwas von dem Gesinnungslärm mischte, der eine so zweideutige Begleiterscheinung der Berliner Premieren zu werden beginnt, so weist das auf den einzigen Punkt, in dem Regie und Text ein Schwanken zeigten.

Das ist der vierte Akt, in dem dramatischer und politischer Schwerpunkt sich nicht mehr decken. Es war ein Mißgriff des verdienstlichen Regisseurs Kenter, die beiden Schreiber in automatischem Gleichschritt an die Rampe zu führen, um sie dort mit ekstatischer Stimme die Akten der Julimorde verlesen zu lassen. Automatische Demagogen, demagogische Automaten sind widersinnig. Was hier als Bruch im Aufbau, Bruch im Beifall, Bruch in der Regie heraustritt, ist freilich die innerste Paradoxie der Sache selber: Kraus kann die eigene Niederlage nicht gestalten. Und dazu werden wir uns beglückwünschen. Wenn sich im letzten Akt der Dichter selbst den hochdramatischen Triumph nicht gönnt, dem Arkus von seinen Gegenspielern ein Licht über die wahren Grundsätze der Korruption aufstecken zu lassen, so ist es, weil Karl Kraus seinen Kampf nicht aufgibt. Sein Stück ist kein Schlachtendrama, sondern ein Communiqué an das Hinterland. Und es in den Abendspielplan zu übernehmen wäre die beste Antwort der Volksbühne auf die Konjunkturwelle der Kriegsdramen.


Dergleichen ging mir auf dem Heimwege durch den Sinn. Daneben aber, ganz ohne Zusammenhang mit alledem, sah ich vor mir: Den Dichter, im Jackettanzug, um den Hals, tief auf die Brust herunterhängend, eine Ordenskette. Die Glieder hießen: Ausbeutung, Kuppelei, Verrat, Erpressung, Sadismus, Lüge. In der Mitte aber bleischwer, erdrückend, dieser fürchterlichste Kraus-Anhänger: Wien. Und die plumpe Berlocke hohntanzte auf seiner geschundenen Brust um so ausgelassener, je verzweifelter er die Arme gen Himmel warf.