Zum Hauptinhalt springen

Alte und neue Graphologie

Die wissenschaftliche Graphologie ist heute gute dreißig Jahre alt. Sie kann, mit gewissen Vorbehalten, durchaus als eine deutsche Schöpfung und 1897, da die Deutsche Graphologische Gesellschaft in München gegründet wurde, als ihr Geburtsjahr bezeichnet werden. Auffallend genug, daß die akademische Wissenschaft dieser Technik, die nun schon drei Jahrzehnte lang Beweise von der Exaktheit ihrer Prinzipien gegeben hat, immer noch abwartend gegenüber steht. An keiner deutschen Universität gibt es bis heute einen Lehrstuhl für Handschriftendeutung. Da verdient es festgehalten zu werden, daß nunmehr eine der freien Hochschulen die Lessing-Hochschule in Berlin – dazu geschritten ist, ein Zentralinstitut für wissenschaftliche Graphologie (unter der Leitung von Anja Mendelssohn) sich anzugliedern. Offenbar hat man diese Tatsache auch im Ausland als einen Markstein in der Geschichte der Graphologie erkannt. Jedenfalls hat der älteste noch lebende Vertreter dieser Wissenschaft, J. Crépieux-Jamin, sich aus Rouen auf den Weg gemacht, um der Eröffnung des Instituts beizuwohnen. Man lernte einen alten, etwas weltfremden Herrn in ihm kennen, der einem auf den ersten Blick ganz gut als Mediziner erscheinen konnte. Und zwar eher als ein bedeutender Praktiker, denn als bahnbrechender Gelehrter. Damit wäre denn in der Tat auch die Stellung Crépieux-Jamins und seiner Schüler in der Graphologie umschrieben. Er übernahm das Erbe seines Lehrers Michon, der 1872 sein »Geheimnis der Handschrift« veröffentlidit hatte, in dem der Begriff Graphologie zum erstenmal auftauchte. Was beide, Lehrer und Schüler, gemein haben, ist der scharfe Blick für Handschriften und eine große Dosis gesunden Menschenverstand im Verein mit kombinierendem Scharfsinn. All das hat sich vorteilhaft in ihren Analysen niedergeschlagen, die freilich den Anforderungen des praktischen Lebens eher als denen einer wissenschaftlichen Charakterologie entsprechen. Deren Forderungen sind zuerst von Ludwig Klages in seinen grundlegenden Werken »Prinzipien der Charakterologie« und »Handschrift und Charakter« erhoben worden. Klages wendet sich gegen die sogenannte »Zeichenlehre« der französischen Schule, die Charaktereigenschaften an ganz bestimmte Schriftzeichen bindet, die sie als Schablone ihrer Deutung zugrunde legt. Demgegenüber deutet Klages die Handschrift grundsätzlich als Geste, als Ausdrucksbewegung. Bei ihm ist nirgends von bestimmten Zeichen die Rede, sondern nur von allgemeinen Merkmalen der Schrift, die nicht auf irgend eine bestimmte Form gewisser Buchstaben beschränkt sind. Eine besondere Rolle spielt dabei die Analyse des sogenannten »Formenniveaus« – eine Betrachtungsweise, in deren Zusammenhang alle Charakteristika einer Schrift grundsätzlich doppeldeutig-positiv oder negativ – auswertbar sind, wobei erst die Niveauhöhe der Schrift darüber Aufschluß erteilt, welche von den beiden Deutungen jeweils stattfinden müsse. Die Geschichte der neuesten deutschen Graphologie wird im wesentlichen durch die Auseinandersetzung mit den Theorien von Klages bestimmt. Sie hat an zwei Punkten eingesetzt. Robert Saudek kritisierte die mangelnde Exaktheit der schreibphysiologischen Befunde bei Klages sowie seine willkürliche Beschränkung auf den deutschen Duktus. Er strebt eine differenzierte Graphologie der verschiedenen nationalen Handschriften auf der Grundlage exakter messender Feststellungen über die Schriftbewegung an. Während bei Saudek die charakterologischen Probleme zurücktreten, stehen sie für eine zweite Richtung, die sich grade jetzt mit Klages auseinanderzusetzen sucht, im Mittelpunkt. Von ihr wird die Definition der Handschrift als Ausdrucksbewegung beanstandet. Max Pulver und Anja Mendelssohn, die ihre führenden Vertreter sind, suchen den Weg zu einer »ideographischen« Schriftdeutung freizumachen, d.h. einer Graphologie, welche die Schrift auf die unbewußt zeichnerischen Elemente, die unbewußten Bildphantasien hin deutet, die sie enthält. Wenn im Hintergrunde der Graphologie von Klages die Lebensphilosophie der Georgeschen Schule, im Hintergrunde der Saudekschen die der Wundtschen Psychophysik steht, so ist in den Bemühungen Pulvers der Einfluß der Freudschen Lehre vom Unbewußtsein nicht zu verkennen.