Fanatismus der Ruhe
Fanatismus der Ruhe scheint ein vom Landtagsabgeordneten v. Thadden-Trieglaff geprägtes Schlagwort zu sein, der in einer vom 13. April 1848 datierten öffentlichen Erklärung, die am 6. Mai d. J. im Voltsbl. S. 537 ff. abgedruckt wurde, versicherte: „Ich bin nicht so von dem Fanatismus der Ruhe und Furcht besessen, dass ich um jeden Preis nur die Ruhe und die Ordnung will.“ Die Redaktion nimmt in den darausfolgenden Anmerkungen sofort den Ausdruck aus und bekennt: „Wir würden es tief beklagen, wenn auch unsere jetzigen Minister von jenem „Fanatismus der Ruhe“ sich hätten anstecken lassen, der jetzt überall, aus Kosten aller moralischen und rechtlichen Grundsätze grassiert.“
Vgl. Gombert, Festg. und ZfdW. 3, 174 f., der nicht nur dartut, dass auch der andere Zusatz alsbald zum analogen Schlagwort von den Fanatikern der Furcht entwickelt wurde, sondern auch daran erinnert, dass verwandte Verbindungen schon geraume Zeit vorher beliebt waren. So bemerkt Jak. Venedey in der Wage 2, 47: „Wir entsinnen uns, dass es nach der Julirevolution in Paris eine Partei gab, die man mit dem Namen bezeichnete: les furieux de la modération.“ Ferner Fanatismus der Überzeugung bei Gutzkow, Goethe im Wendep. (1836) S. 185 und Fanatismus für Ordnung bei Gutzkow 12, 352 (1842) usw.
Für die Beliebtheit der oben genannten Schlagworte nur einige Zeugnisse. Gutzkow, Deutschland am Vorabend (1848) S. 172: „Die „Fanatiker der Ruhe“ waren ärger als die, welche in der Unruhe die natürliche Folge, ja die notwendige Bedingung einer moralischen Revolution sahen.“ Auch Br. Bauer, Die bürgerl. Rev. in Deutschl. (1849) S. 246 spricht von einem „Fanatismus für Stillstand und Ruhe“. Die Grenzboten bringen 1849, 2. Sem. 4, 174 einen eigenen Aufsatz unter der Devise: Fanatiker der Ruhe, worin sie erläutern: „Ein fanatischer Phlegmatiker aber ist gar nicht denkbar.. Denn was man in neuester Zeit mehr witzig als ernsthaft „Fanatiker der Ruhe“ gescholten hat, sind Leute, denen es an Energie nicht fehlt, deren Gemütsstimmung aber von einem maßlosen Hass gegen die Unruhe beherrscht wird.“
Andererseits berichtet Wolff 2, 464, dass einige Tage nach dem 4. Mai 1848 in den Zeitungen eine Erklärung erschienen sei, mit Beziehung auf das Abreißen von Maueranschlägen: „Das Abreißen der Zettel ist eine Bevormundung des Publikums. Kaum ist der Zensor begraben, so treten zahllose Fanatiker der Furcht auf und versehen dem Volke gegenüber sein Amt.“
Die Schlagkraft dieser Ausdrücke wirkt noch nach in Wendungen wie „Fanatiker des Glücks“ im Stuttg. Morgenbl. 1848, 684 oder „Freiheits-Ideal des modernen Ordnungsfanatikers“ bei Bamberger in den Demokrat. Stud. (1860) S. 195 oder „Rückschrittsfanatiker“ bei Joh. Scherr, Aus d. Sündfl. 1867, 283. Ferner Fanatiker des Mißtrauens bei Nietzsche 3, 308 und „Wahrheitsfanatiker“ (Nordau, Ibsen!) bei Bamberger 1, 88 usf.
Zur Geschichte des Schlagworts vergl. aber schon die Äußerung Börnes 11, 201 (vom 30. Dezember 1832) über König Louis Philipp: „Diese Leidenschaft der Ruhe, dieses Ordnungssieber hatte keiner von ihnen.“