Mannigfaltigkeit

Mannigfaltigkeit. (Schöne Künste) Die Abwechslung in den Vorstellungen und Empfindungen scheint ein natürliches Bedürfnis des zu einiger Entwicklung der Vernunft gekommenen Menschen zu sein. So angenehm auch gewisse Dinge sind, so wird man durch deren anhaltenden oder gar zu oft wiederholten Genuß erst gleichgültig dafür; bald aber wird man ihrer überdrüßig. Nur die öftere Abwechslung, das ist die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die den Geist oder das Gemüt beschäftigen, unterhält die Lust, die man daran hat. Der Grund dieses natürlichen Hanges ist leicht zu entdecken: er liegt in der inneren Tätigkeit des Geistes; aber er zeigt sich erst nachdem der Mensch zu einigem Nachdenken über sich selbst gekommen ist und das Vergnügen wirksam zu sein, oft genossen hat. Halb wilde Völker, wie diejenigen Americaner, die nicht über drei zählen1, können einen ganzen Tag Gedankenlos sizen und auf ihren Pfeifen denselben Ton tausendmal wiederholen, ohne Langeweile zu fühlen.

 Dieser Hang zur Abwechslung trägt sehr viel zur allmählichen Vervollkommnung des Menschen bei; denn sie unterhält und vermehrt seine Tätigkeit und verursacht eine tägliche Vermehrung seiner Vorstellungen, die eigentlich den wahren inneren Reichtum des Menschen ausmachen. Ob gleich die Liebe des Mannigfaltigen aus der inneren Wirksamkeit entsteht, so wird im Gegenteil diese durch jene wieder verstärkt. Je mehr man die Lust abgewechselter und mannigfaltiger Vorstellungen genossen hat, je stärker wird das Bedürfnis folglich das Bestreben die Anzahl derselben zu vermehren. Daher kommt es, dass der Mensch allmählich jedes innere und äußere natürliche Vermögen, jede Fähigkeit brauchen lernt; dass er sich allmählich dem Zustande der Vollkommenheit nähert, um alles zu werden, dessen er fähig ist.

 Da die Werke der schönen Künste notwendig unterhaltend sein und in allen Teilen der Vorstellungskraft neuen Reiz geben müssen2; so muss in der Menge der Dinge, die jedes Werk uns darbietet, auch eine hinreichende Mannigfaltigkeit sein. Alle Künstler von Genie haben sie in ihren Werken gezeigt, jeder nach dem Maße der Fruchtbarkeit seines Genies. In der Ilias ist des Streitens unendlich viel und immer abgewechselt; die Helden, deren besonders Meldung geschieht, sind kaum zu zählen; aber jeder ist genau und in allem, was zum Charakter gehört, von jedem anderen verschieden.

 Die Mannigfaltigkeit aber, die gefallen soll, muss sich in Gegenständen finden, die eine natürliche Verbindung unter sich haben. Es ist eben so verdrießlich jede Minute des Tages eine neue, mit der vorhergehenden nicht verbundene Beschäftigung zu haben als jede Minute dasselbe zu wiederholen. Eine beträchtliche Sammlung einzelner unter sich gar nicht zusammenhängender Gedanken, deren jeder schön und wichtig wäre, würde ein Buch von großer Mannigfaltigkeit des Inhalts ausmachen, das Niemand lesen könnte. Darum muss ein Faden sein, an dem die Menge der verschiedenen Dinge so aufgezogen sind, dass, nicht eine willkürliche Zusammensetzung, sondern eine natürliche Verbindung unter ihnen sei. Das Mannigfaltige muss als die immer abgeänderte Wirkung einer einzigen Ursache oder als verschiedene Kräfte, die auf einen einzigen Gegenstand wirken oder als Dinge von einer Art, deren jedes durch seine besondere Schattierung ausgezeichnet ist, erscheinen. Je genauer die Dinge bei ihrer Mannigfaltigkeit zusammenhängen, je feiner ist das Vergnügen, das sie verursacht.

 Diese Mannigfaltigkeit muss überall wo vieles vorkommt beobachtet werden. Der gute Historienmaler lässt uns nicht nur Personen von verschiedenen Gesichtsbildungen sehen; auch in ihren Stellungen, in den Verhältnissen ihrer Gliedmaßen, in ihren Kleidungen, beobachtet er eine gefällige Abwechslung. Der Dichter begnügt sich nicht an der Mannigfaltigkeit der Gedanken, er beobachtet sie auch im Ausdruck, in der Wendung, in dem Rhythmus, dem Ton und anderen Dingen. Der Tonsetzer sorgt nicht bloß für die gefällige Abwechslung des Tones, auch die Harmonien auf ähnlichen Stellen und die Folge der Töne werden verschieden.

 Es denke kein Künstler ohne Genie, wenn er von Mannigfaltigkeit sprechen hört, dass es dabei auf eine Zusammenraffung vielerlei Gedanken und Bilder ankomme. Die Menge und Verschiedenheit der Sachen so zu finden und zu wählen, dass jede zum Zweck dient und am rechten Orte steht; dass die Menge nicht nur keine Verwirrung mache, sondern als ein Ganzes, dem nichts kann benommen werden, erscheine, erfordert wahres Genie und einen sichern Geschmack. In den Werken der Künstler, denen diese beiden Eigenschaften fehlen, wird man entweder Armut an Gedanken oder eine unschickliche Zusammenhäufung solcher Vorstellungen, die sich nicht zu einander schicken, antreffen. So sieht man in den Werken einiger Tonfezer, entweder, dass sie durch ein ganzes Stück denselben Gedanken, immer in anderen Tönen wiederholen, dass die ganze Harmonie auf zwei oder drei Akkorden beruht; oder im Gegenteil, dass sie eine Menge einzelner, sich gar nicht zusammenpassender Gedanken hinter einander hören lassen. Nur der Tonsetzer, der das zu seiner Kunst nötige Genie. hat, weiß den Hauptgedanken in mannigfaltiger Gestalt, durch abgeänderte Harmonien unterstützt, vorzutragen und ihn durch mehrere ihm untergeordnete, aber genau damit zusammenhängende Gedanken, so zu verändern, dass das Gehör von Anfang bis zum Ende beständig gereizt wird. Es ist vorher angemerkt worden, dass der Mangel an Mannigfaltigkeit Armut des Genies verrät. Könnte nicht hieraus in gewissen Fällen eine Regel zur Beurteilung des Genies einer ganzen Nation gezogen werden? Würde man z.B. nicht schließen können, dass die Nation, bei der gewisse Werke der Kunst durchaus immer einerlei Form haben, wie wenn alle Wohnhäuser nach einerlei Muster aufgeführt; alle Komödien nach einerlei Plan eingerichtet; alle Oden in einem Ton angestimmt und nach einer Regel ausgeführt wären u. d. gl. dass dieser Nation das Genie zur Baukunst, zur Komödie, zur Ode noch fehlt?

 

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1 S. Condamines Reise längst dem Amazonenfluss.

2 S. Werke der Kunst.

 


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Seite zuletzt aktualisiert: 23.10.2004 
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