Melodie - Deklamation


V. Nun bleibt uns noch übrig von der fünften Eigenschaft einer guten Melodie zu sprechen, wenn sie wirklich zum Singen oder wie man sich ausdrückt, über einen Text gemacht wird.

Dass der Ausdruck des Gesangs mit dem, der in dem Text herrschet übereinkommen müsse, versteht sich von selbst. Deswegen ist das erste, was der Ton setzer zu tun hat, dieses, dass er die eigentliche Art der Empfindung, die im Texte liegt und so viel möglich den Grad derselben bestimmt fühle; dass er suche sich gerade in die Empfindung zu setzen, die den Dichter beherrscht hat, da er schrieb. Er muss zu dem Ende bisweilen den Text oft lesen und die Gelegenheit, wozu er gemacht ist, sich so bestimmt als möglich ist, vorstellen. Ist er sicher die eigentliche Gemütsfassung, die der Text erfordert, getroffen zu haben, so versuche er ihn auf das richtigste und nachdrücklichste zu deklamieren. Eine schwere Kunst [s. Vortrag in redenden Künsten], die dem Tonsetzer höchst nötig ist. Dann suche er vor allen Dingen in der Melodie die vollkommenste Deklamation zu treffen. Denn Fehler gegen den Vortrag der Wörter gehören unter die wichtigsten Fehler des Satzes. Er bemerke genau die Worte und Silben, wo die Empfindung so eindringend wird, dass man sich etwas dabei zu verweilen wünschet. Dort ist die Gelegenheit, die rührendsten Manieren, auch allenfalls kurze Läufe, (denn lange sollten gar nicht gemacht werden) anzubringen. Hat er Gefühl und Übung im Satz, so werden ihm Bewegung und Takt, wie sie sich schicken, ohne langes Suchen einfallen. Aber den schicklichsten Rhythmus und die besten Einschnitte zu treffen, wird ihm, wo der Dichter nicht vollkommen musikalisch gewesen ist, oft sehr schwer werden.

Es bedarf kaum der Erinnerung, dass die Einschnitte und Perioden, mit denen die im Texte sind übereinkommen müssen. Aber wenn diese gegen das Ebenmaß der Musik streiten? Dann muss der Setzer sich mit Wiederholungen und mit Versetzungen einzelner Wörter zu helfen suchen. Höchst ungereimt sind die Schilderungen körperlicher Dinge in der Melodie, welche der Dichter nur dem Verstand, nicht der Empfindung vorlegt. Davon aber ist schon anderswo das Nötige erinnert worden [s. Malerei in der Musik]. Noch unverzeihlicher und wirklich. abgeschmackt sind Schilderungen einzelner Worte nach ihrem leidenschaftlichen Sinn, der dem Ausdruck des Textes völlig entgegen ist. Wie wenn der Dichter sagte: weinet nicht und der Tonsetzer wollte auf dem ersten Worte weinerlich tun. Und doch trift man solche Ungereimtheiten nur zu oft an.

Endlich ist auch noch anzumerken, dass gewisse Fehler gegen die Natur des Taktes, die Melodien höchst unangenehm und widrig machen. Dergleichen Fehler sind die, da die Dissonanzen auf Taktteilen, die sie nicht vertragen, angebracht werden. Im große 3/4 Takt, wo die Rückungen durch Viertel geschehen, können die Vorhalte oder zufälligen Dissonanzen nur auf dem ersten Viertel angebracht werden; geschehen aber in diesem Takt die Rückungen durch Achtel, so können diese Dissonanzen auf dem ersten, dritten und fünften Achtel stehen: hingegen im 6/8 Takt, fallen sie auf das erste und vierte Achtel und werden mit dem zweiten oder dritten, fünften oder sechsten vorbereitet. Dieses sind sehr wesentliche Regeln, die man ohne Beleidigung des Gehöres nicht übertreten kann.


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