Musik - Heilkraft der Musik
Dass die Musik überhaupt alle anderen Künste an Lebhaftigkeit der Kraft übertreffe ist bereits angemerkt, auch der Grund davon angezeigt worden. Aber auch bloß durch die Erfahrung wird dieses genug bestätiget. Man wird von keiner anderen Kunst sehen, dass sie sich der Gemüter so schnell und so unwiderstehlich bemächtige, wie durch die Musik geschieht. Um der allgewaltigen Wirkung der ehemaligen Pöane der Griechen oder eines bloßen unordentlichen Freudengeschreies, nicht zu erwähnen, braucht man nur einmal eine in Poesie, Gesang Harmonie und Vortrag vollkommene Arie oder ein solches Duettt in einer Oper gehört zu haben. Indem Salimbeni ein solches Adagio sang, standen einige tausend Zuhörer in einer staunenden Entzückung als wenn sie versteinert wären. Wir wollen hierüber die Beobachtungen eines der ersten Köpfe unseres Jahrhunderts anführen.
»Da ich sie singen hörte, sagt er, bemächtigte sich allmählich eine nicht zu beschreibende Wolluft, meiner ganzen Seele – Bei jedem Worte stellte sich ein Bild in meinem Geiste oder eine Empfindung in meinem Herzen dar –. Bei den glänzenden Stellen, voll eines starken Ausdrucks, wodurch die Unordnung heftiger Leidenschaften gemalt und zugleich wirklich erregt wird, verlor sich bei mir die Vorstellung von Musik, Gesang und Nachahmung gänzlich: Ich glaubte die Stimme des Schmerzens, des Zorns, der Verzweiflung selbst zu hören; ich dachte jammernde Mütter, betrogene Verliebte, rasende Tyrannen zu hören und hatte Mühe bei der großen Erschütterung, die ich fühlte, auf meiner Stelle zu bleiben. – Nein ein solcher Eindruck ist niemals halbe man fühlt ihn entweder gar nicht oder man wird außer sich gerissen; man bleibt entweder ohne alle Empfindung oder man empfindet unmäßig; entweder hört man ein bloß unverständliches Geräusch oder man empfindet einen Sturm von Leidenschaft, der uns fortreißt, - und dem die Seele zu widerstehen unvermögend ist.« [Rousseau dans la Julie. T. I. p. 48]
Diejenigen, die an den Erzählungen, von den wunderbaren Wirkungen der Musik, die wir bei den alten Schriftstellern antreffen, zweifeln, haben entweder nie eine vollkommene Musik gehört oder es fehlt ihnen an Empfindung. Man weiß, dass die Lebhaftigkeit der Empfindungen von dem Spiel der Nerven und dem schnellen Laufe des Geblütes herkommet: dass die Musik wirklich auf beide wirke, kann gar nicht geleugnet werden. Da sie mit einer Bewegung der Luft verbunden ist, welche die höchst reizbaren Nerven des Gehörs angreift, so wirkt sie auch auf den Körper und wie sollte sie dieses nicht tun, da sie selbst die unbelebte Materie, nicht bloß dünne Fenster, sondern so gar feste Mauern erschüttert? [Man sehe hierüber die besonderen Beobachtungen, die Rousseau in seinem Dictionaire de Musique im Art. Musik gesammelt hat.] Warum sollte man also daran zweifeln, dass sie auf empfindliche Nerven eine Wirkung mache, die keine andere Kunst zu tun vermag oder dass sie vermittelst der Nerven eine zerrüttete fiebrige Bewegung des Geblütes, in Ordnung bringen könne, und, wie wir in den Schriften der Pariser Akademie der Wissenschaften finden, einen Tonkünstler, von dem Fieber selbst befreit habe? Wer Erzählungen von außerordentlichen Wirkungen der Musik zu lesen verlangt, findet davon eine Sammlung in des Bartolini Werke von den Flöten der Alten. Es ist gewiss nicht alles Fabel, was die griechische Tradition von Orpheus sagt, der die Griechen durch Musik aus ihrer Wildheit soll gerissen haben. Was für ein anderes Mittel könnte man brauchen, ein wildes Volk zu einiger Aufmerksamkeit und zur Empfindung zu bringen. Alles, was zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse gehört, hat ein solches Volk gemeiniglich; Vernunft aber und Überlegung dem zuzuhören, der ihm von Sitten, von Religion, von gesellschaftlichen Einrichtungen sprechen wollte, hat es nicht. Also kann man es durch Versprechung größeren Überflusses, nicht reizen. Poesie und Beredsamkeit vermögen nichts auf dasselbe; auch nicht die Malerei, an der es höchstens schöne Farben betrachten würde, die nichts sagen: aber Musik dringt ein, weil sie die Nerven angreift und sie spricht, weil sie bestimmte Empfindungen erwecken kann. Darum sind jene Erzählungen völlig in der Wahrheit der Natur, wenn sie auch historisch falsch sein sollten.
Bei diesem augenscheinlichen Verzug der Musik über andere Künste, muss doch nicht unerinnert gelassen werden, dass ihre Wirkung mehr vorübergehend scheint als die Wirkung anderer Künste. Das was man gesehen oder vermittelst der Rede vernommen hat, es sei, dass man es gelesen oder gehört habe, lässt sich eher wieder ins Gedächtnis zurückrufen als bloße Töne. Darum können die Eindrücke der Malerei und Poesie wiederholt werden, wenn man die Werke selbst nicht hat. Also müssen die Werke der Musik, die dauernde Eindrücke machen sollen, oft wiederholt werden. Hingegen, wo es um plötzliche Wirkung zu tun ist, die nicht fortdauernd sein darf, da erreicht die Musik den Zweck besser als alle Mittel die man sonst anwenden könnte.
Aus allen diesen Anmerkungen folgt, dass diese göttliche Kunst von der Politik zu Ausführung der wichtigsten Geschäfte, könnte zu Hilfe gerufen werden. Was für ein unbegreiflicher Frevel, dass sie bloß als ein Zeitvertreib müßiger Menschen angesehen wird! Braucht man mehr als dieses, um zu beweisen, dass ein Zeitalter reich an Wissenschaft und mechanischen Künsten oder an Werken des Witzes und sehr arm an gesunder Vernunft sein könne?