Mitleiden

Mitleiden. (Schöne Künste) Die liebenswürdige Schwachheit, der man den Namen des Mitleidens gegeben hat, verdient in der Theorie der schönen Künste besonders in Betrachtung zu kommen.

Verschiedene Werke der Kunst ziehlen bloß darauf ab, uns diese Art der Wollust, die das Mitleiden mit sich führt, genießen zu lassen. Darum wollen wir hier die Natur und die Wirkungen dieser Leidenschaft betrachten und danach über den Gebrauch derselben in den schönen Künsten einiges anmerken.

 Wir empfinden Mitleiden, indem wir andere Menschen, an deren Schikcksal wir Anteil nehmen, für unglücklich halten; es sei dass sie selbst dabei leiden oder nicht. Denn oft entsteht das größte Mitleiden, wenn wir andere unglücklich sehen, ob sie gleich selbst ihr Elend nicht fühlen, wie bei Wahnwitzigen geschieht. Das erste also, was zum Mitleiden erfordert wird, ist, dass wir andere für unglücklich halten; das zweite, dass wir Anteil an ihrem Schikcksal nehmen müssen. Sowohl bei der einen als bei der anderen dieser Bedingungen ist verschiedenes anzumerken, das eine nähere Ausführung erfordert.

 Zuerst also richtet sich das Mitleiden nach den Vorstellungen, die wir selbst von dem Elend oder Unglück haben. Wer niederträchtig genug ist, selbst keine Empfindung der Ehre zu haben, dem wird die Erniedrigung oder Demütigung, die einem anderen wiederfährt, kein Mitleiden erwecken und so wird der, welcher den Besiz des Reichtums gering schätzt, kein Mitleiden mit dem haben, der sein Vermögen verloren hat; auch sogar dann nicht, wenn es diesem schmerzhaft ist. Es gibt so gar Fälle, wo wir den über sein Elend klagenden, schelten und es ihm übel nehmen, dass er sich elend fühlt. So gewiss ist es, dass wir nur dann Mitleiden haben, wo wir selbst leiden würden, wenn wir an des anderen Stelle wären.

 Die andere Erfordernis zum Mitleiden ist, dass uns die Personen, deren Elend wir fühlen sollen, nicht gleichgültig seien. Denn das Elend derer, für die man gleichgültig ist, macht keinen Eindruck; trift es Personen, die man hasset, so macht es so gar Vergnügen. Aber auf den höchsten Grad steiget es, wenn das Elend Personen betrift, für die man große Hochachtung oder sehr zärtliche Zuneigung hat. Überhaupt ist ein Mensch nur insofern zum Mitleiden geneigt als er Achtung und Zuneigung gegen andere hat. Es gibt Menschen, die Niemand achten als sich und die, welche ihnen angehören und diese sind gegen alle Menschen hart und unempfindlich – Große, die alles verachten, was unter ihrem Stand ist: diese haben nur mit Personen ihres Standes Mitleiden; sie sehen die Not der geringern, ohne die geringste Rührung. Nicht selten findet man Menschen, die so sehr in sich selbst verliebt und dabei so kurzsichtig und daher so ungerecht sind, dass sie jeden anderen Menschen, der nicht so denkt und handelt, wie sie es erwarten, verachten oder gar hassen und daher kein Mitleiden mit ihm haben. Daher kommt es, dass Menschen, die gegen ihre Freunde sehr mitleidig sind, ohne alles Gefühl des Mitleidens mit Feuer und Schwert gegen die wüten, die in bürgerlichen oder gottesdienstlichen Angelegenheiten, von einer anderen Partei als sie selbst sind. Ich habe einen Mann gekannt, der sich aus unmenschlichen Grausamkeiten ein Spiel machte und für Mitleiden fast außer sich kam, wenn er eines seiner Kinder leiden sah. So wenig kann man auf das gute Herz eines Menschen den Schluss machen, wenn man ihn von Mitleiden gerührt sieht.

 Der Dichter, der Thränen des Mitleidens will fließen machen, muss also nicht nur das Elend der Personen lebhaft schildern, sondern vorher unsere Hochachtung und Zuneigung für sie erwecken. Beides hat Shakespear in einem hohen Grade beseßen. Auch Euripides kann darin als ein Muster angeführt werden, vorzüglich in Schilderung des Elends. Und wem wird nicht hier die Clarissa oder die Clementina della Poretta als vollkommene Muster beifallen? Ist der hochachtungswürdige Mensch bei seinem Leiden noch geduldig oder entsteht sein Elend ganz unmit telbar aus der Größe seiner Tugend, so steiget das Mittleiden auf den höchsten Grad. Im ersteren Falle befindet sich Anchises in der Äneis, der im größten Elende die anderen in ihrem Mitleiden gegen ihn noch tröstet.

Sic o! sic positum adsati discedite corpus. Ipse manu mortem inveniam; miserebitur hostis Exuviasque petet: facilis jactura sepulchri est.1 Für den anderen Fall kann eine Szene aus Thomsons Tancred und Sigismunde angeführt werden, die jedem Menschen von Empfindung das Herz durchbohrt. Der alte Siffredi, der Sigismunde Vater, ist ein verehrungswürdiger Held, dem Tancred seine Errettung vom Tode, seine Erziehung und zulezt die Crone von Sicilien zu danken hat. Tancred verehrt und liebt ihn auch als seinen Vater. Aber da dieser verliebte Jüngling erfährt, dass Siffredi, obgleich in der edelsten Absicht und aus einem Übermaß von Tugend, seine Verbindung mit Sigismunde hintertreibt, bricht er in den heftigsten Zorn gegen ihn aus; nennt seinen Wohltäter und Erretter einen alten Betrüger und begegnet ihm, wie einem Nichtswürdigen. Da auch Tancred selbst ein hochachtungs- und liebenswürdiger Jüngling ist, so übernimmt uns zugleich auch ein tiefes Mitleiden für ihn, der sich durch die Heftigkeit der Leidenschaft zu dieser Abscheulichkeit hinreißen lässt. Man wird ungewiss, ob man mehr mit Siffredi oder mit Tancred Mitleiden haben soll. Dies ist meines Erachtens eine der stärksten tragischen Szenen, die möglich sind.

 Der Redner oder der Dichter, der sich vorsetzt zum Mittleiden zu bewegen, muss wohl bedenken, für was für eine Gattung Menschen er arbeitet; denn nach der Sinnesart und dem Charakter der Menschen richten sich ihre Vorstellungen von Elend und Unglück. Weichliche, verzärtelte Menschen werden mitleidig, wenn andere Ungemach oder auch nur geringe körperliche Schmerzen ausstehen und wer vorzüglich zur Zärtlichkeit und Liebe geneigt ist, fühlt bei einer unglücklichen Liebe das größte Mitleiden, wo ein anderer nur spotten würde. Es gibt Menschen die nicht begreifen können, dass man unglücklich sei, so lange man Macht oder Reichtum besizt und dadurch in Stand gesetzt wird, sich alles, was zum Vergnügen der Sinnen gehört, zu verschaffen. Wie die Menschen, nach einer gemeinen oder feineren Sinnesart, ihr Vergnügen an gröberen oder feineren Dingen finden, so urteilen und empfinden sie auch verschiedentlich bei dem Elend und danach richtet sich notwendig das Mitleiden.

 Die unmittelbare Wirkung dieser Leidenschaft, insofern sie durch die Werke der schönen Künste erregt wird, ist gar oft nur vorübergehend; eine bei dem Schmerz nicht unangenehme Empfindung, weil der Mensch alles liebt, was sein Gemüt ohne widrige dauernde Folgen in Bewegung setzt.2 So ist das Mitleiden, das wir mit dem Oedipus beim Sophokles haben. Es kann auf nichts abzielen. Doch gibt es auch Gelegenheiten, wo mehr damit ausgerichtet wird. Der Redner kann durch Erweckung des Mitleidens für einen Beklagten, ihn von der Strafe retten; oder wo das Mitleiden für einen Beleidigten rege gemacht wird, dem Beleidiger eine schwerere Strafe zu ziehen. Aber die gute Wirkung des Mitleidens kann sich, wenn nur die Sachen recht behandelt werden, noch weiter erstrecken. Dieses verdient eine nähere Betrachtung.

 Wenn wir unter eigenem Schmerzen fremdes Elend sehen, das aus Bosheit, Übereilung oder bloß unschicklichem Betragen anderer Menschen auf die Leidenden gekommen ist; so werden wir dadurch kräftig gewarnet, uns selbst vor solchem Betragen, dadurch andre unglücklich werden, sorgfältig zu hüten und wir werden mit lebhaftem Unwillen die Bosheit verabscheuhen, die andere elend gemacht hat. So wirkt das Mitleiden, das wir mit der Iphigenia und ihrer Mutter haben, Abscheu gegen die verdammte Ehr- und Herrschsucht des Agamemnons, der selbst das Leben einer liebenswürdigen Tochter aufgeopfert worden. Wer wird nicht, wenn ihn das Elend eines unterdrück ten Volks bis zu Thränen gerührt hat, die Tyrannei und jeden Unterdrücker auf ewig hassen? Wer kann, ohne dem Geiz zu fluchen, die mitleidenswürdige Szene betrachten, die Horaz so rührend schildert.3 Überhaupt also kann das Mitleiden dienen, Hass und Abscheu gegen solche Laster zu erwecken, wodurch unschuldige Menschen unglücklich werden. Der Künstler verdient unseren Dank, der die Szenen des Elends, das Laster über unschuldige gebracht hat, so schildert, dass wir lebhaftes Mitleiden fühlen. Der gottlose boshafte Mensch wird freilich dadurch nicht gebessert; aber die Menschlichkeit gewinnt doch dabei, wenn er gehasst und verabscheuhet wird.

 Aber nicht nur ganz verworfene, sondern auch sonst noch gute Menschen, können durch Leidenschaften verleitet oder aus Übereilung, aus Vorurteil und mancherlei Schwachheiten, andere Menschen elend machen. Das Mitleiden, das wir dabei empfinden, warnet uns ernstlich, dass wir gegen solche Schwachheiten auf guter Hut seien. Wird nicht ein Vater sich hüten, einer sonst liebenswürdigen, aber von Zärtlichkeit übereilten Tochter mit Härte zu begegnen, wenn er das Mitleiden über so mancherlei Jammer, das eine solche Härte über ganze Familien gebracht hat, gefühlt, wenn er z.B. Shakespears Romeo und Juliette vorstellen, gesehen? Welcher Jüngling, wenn er nicht ganz des Gefühls beraubet ist, wird sich nicht mit äußerster Sorgfalt in Acht nehmen, ein zärtliches Mädchen, zu dessen Besiz er nicht gelangen kann, zur Liebe gegen ihn zu verleiten, wenn er das Mitleiden gefühlt hat, das Clementinens Wahnwitz in jedem nicht ganz unempfindlichen Herzen auf das lebhafteste erweckt?

 Aus diesen und tausend anderen Beispielen erhellt, was für gute Wirkungen aus dem Mitleiden durch die Werke der schönen Künste erfolgen können. Vielleicht wäre es auch möglich harte und unempfindliche Seelen, die durch fremde Not noch nie gerührt worden, durch solche Werke allmählich empfindsam zu machen. Was sie bei den verschiedenen mitleidenswürdigen Szenen des Lebens noch nicht gefühlt haben, könnte ihnen vielleicht durch recht lebhafte Schilderungen nach und nach fühlbar werden.

 Allein es verdient auch angemerkt zu werden, dass das Mitleiden, wie alle sonst unmittelbar gute Leidenschaften, schädlich werden kann, wenn es zu weit getrieben wird. Seiner Natur nach benimmt es immer der Seele von ihrer Stärke. Der Mensch aber bekommt seinen Wert mehr von den wirkenden als von den leidenden Kräften; man kann sehr mitleidig und im übrigen sehr wenig wert und keiner, nur ein wenig Anstrengung der Kräfte erfordernden, guten Handlung fähig sein. Also könnte der übertriebene Hang zum Mitleiden in bloße Weichlichkeit ausarten. Alsdann würde es auch zu nichts dienen als dass der Mitleidige sich selbst durch seine Empfindsamkeit elend machte. Wie es oft geschieht, dass Menschen vor allzugroßem Schmerzen ohnmächtig werden und zur Erleichterung ihres eigenen Elendes nichts mehr tun können; so kann auch der, den das Mitleiden niederdrückt, in manchen Fällen dem Elenden wenig Hilfe leisten. Und wie es nicht mehr heilsame Empfindsamkeit, sondern höchstschädliche Schwachheit ist, jede uns betreffende Beschwerlichkeit lebhaft zu fühlen; so ist ein ähnliches Gefühl für andere keine tugendhafte Regung. Das Mitleiden muss sich nicht auf geringe und in ihrem Folgen nützliche Ungemächlichkeiten, vielweniger auf bloß eingebildetes Elend erstrecken. Warum wollte man z.B. mit Leuten, die harter Arbeit gewohnt sind, die, damit zufrieden, sich ihren täglichen Unterhalt dadurch schaffen und zugleich notwendige Geschäfte, derer die Gesellschaft nicht entbehren kann, verrichten, Mitleiden haben? Oder warum sollte man weichliche Menschen, die von jeder Beschwerlichkeit niedergedrückt werden, durch Mitleiden noch zaghafter machen? Also gilt auch von dieser an sich liebenswürdigen Leidenschaft, was Aristoteles mit Recht von allen sittlichen Eigenschaften fordert, sie muss das Mittelmaß nicht viel überschreiten.

Aus diesen Betrachtungen über die Natur und die Folgen des Mitleidens, kann der Künstler lernen, was er in Absicht auf dasselbe zu tun hat. Will er Mitleiden erwecken, so muss er das Elend, das unsere Empfindsamkeit reizen soll, lebhaft schildern; für die leidenden Personen muss er uns einnehmen, muss ihre Unschuld, ihre Tugend, die ein bessers Schikcksal verdiente oder ihre Gelassenheit und Geduld; daneben ihr Leiden, die Unmöglichkeit, dass sie sich selbst helfen, uns fühlen lassen; er muss uns helfen, uns selbst in die Umstände der leidenden zu setzen, damit wir alles recht fühlen; denn muss er bisweilen das Mitleiden selbst, dass er oder andere bei dieser Sache schon fühlen, so lebhaft als ihm möglich ist, ausdrücken; weil dieses allein uns schon zu derselben Empfindung reizt. Dieses alles bedarf keiner weiteren Ausführung.

 Mit reifer Überlegung hat der Künstler zu bedenken, wohin das Mitleiden, das er in uns rege machen will, abzielen könne oder müsse. Werke, die auf bloß vorübergehendes unfruchtbares Mitleiden abzielen, in welchem Fall vielleicht die meisten Trauerspiele sind, so angenehm sie auch sonst sein mögen, sind von keiner großen Wichtigkeit, wo sie nicht durch Nebensachen wichtig werden. Vorzüglich wähle der Künstler einen Stoff, wodurch er Mitleiden erweckt, dessen Wirkungen, wie vorher gezeigt worden, heilsam sind; wodurch er Abscheu oder Feindschaft gegen Grausamkeit, Bosheit und gegen Laster, Furcht vor Schwachheiten und Vergehungen, dadurch andere elend werden können, auf eine dauerhafte Weise in die Gemüter pflanzen kann. Aber er hüte sich uns ein bloß eingebildetes Elend als ein Wirkliches vorzustellen. Er fodre nicht von uns, dass wir mit einen König Mitleiden haben, der durch unverzeichliche Schwachheit darum sich unglücklich fühlt, weil er seine Neigung zu einer Buhlerin dem Besten des Staats aufzuopfern nicht im Stand ist. Dieses verdient mehr unseren Unwillen als unser Mitleiden. Er mache uns nicht weichherzig, wenn Cato den Untergang der Freiheit nicht überleben will und sich von dem weit größeren Elend der Schmeichler eines Tyrannen oder allenfalls auch nur der Zeuge seiner Handlungen zu sein, durch einen freiwilligen Tod befreit; oder wenn ein rechtschaffener Mann, wie Phocion ein Opfer der Tyrannei wird, da sein Tod uns mit Hochachtung für ihn erfüllet. Der Held bedarf unseres Mitleidens nicht und den Tyrannen verabscheuhen wir, ohne erst durch dieses Mitleiden dazu vermocht zu werden.

 

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1 Äneid. L. II.

2 Man sehe, was hiervon im Art Leidenschaften, S. 701 angemerkt worden.

3 Od. L. II. Od. 18. vs. 26. ss.


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