Temperatur

 Temperatur. (Musik) Das Wort bedeutet überhaupt eine wohl überlegte kleine Abweichung von der höchsten Reinheit eines Intervalles, um es dadurch in Verbindung mit anderen desto brauchbarer zu machen1; besonders aber drückt man dadurch die Einrichtung des ganzen Tonsystems aus, nach welcher einigen Tönen etwas von der genauen Reinheit die sie in Absicht auf gewisse Tonarten haben sollten, benommen wird, damit sie auch in anderen Tonarten können gebraucht werden. Wir haben in dem Artikel System gezeigt, wie so wohl das alte als das neuere reine diatonische System beschaffen sein müsse. Setzt man nun, dass jede Oktave dieses Systems C, D, E, F, G, A, B, H, c. so gestimmt sei, wie die dort angezeigten Verhältnisse es erfordern und dass man sich mit diesen Tönen, deren jeder, nur B und H ausgenommen zur Tonika kann gemacht werden, begnüge, so hat man keine Temperatur nötig. Jeder zur Tonika angenommene Ton hat zwar andere Intervalle als die anderen, aber sie sind so beschaffen, dass man mannigfaltige und schöne Melodien zu mehreren Stimmen damit setzen kann.

 So bediente man sich in der Tat des diatonischen Systems bis in das vorige Jahrhundert: damals aber fing man an eine größere Mannigfaltigkeit von Tönen und Modulationen zu suchen. Man war nicht mehr zufrieden, bloß aus sechs Haupttönen und zwar aus jedem entweder nur in der großen oder in der kleinen Tonart zu spielen. Die schon vorher eingeführten halben Töne Cis, Dis, Fis, und Gis, wurden allmählich dazu gebraucht, dass man aus einem Grundtone, der in dem ehemaligen System nur die große oder nur die kleine Tonart hatte, nun auch in der kleinen oder großen spielte. Endlich fiel man auch darauf die neuen halben Töne selbst zu Haupttönen zu machen und das ganze System so einzurichten, dass jede der zwölf Saiten der Oktave, so wohl in der großen als kleinen Tonart zur Tonika dienen könnte.

 Dieses war nun mit zwölf Saiten, deren Stimmung auf Orgeln und Klavieren notwendig festgesetzt werden musste, nicht zu erhalten. Denn es ist keine Stimmung von zwölf Saiten, die danach in höheren Oktaven wiederholt werden, möglich, die so wäre, dass jede dieser Saiten ihre reine diatonische Intervalle hätte, wie jeder, der Töne berechnen kann, leicht finden wird. Doch sah man, dass diese Foderungen beinahe zu erhalten wären, wenn man einigen Intervallen an ihrer diatonischen Reinheit etwas weniges wollte fehlen lassen. Dieses veranlasste also die Tonsetzer eine Temperatur zu suchen, die das Spielen aus zwölf Haupttönen, so wohl in Dur als in Moll möglich machte.

Es sind nun sehr vielerlei solche Temperaturen vorgeschlagen worden. Wir halten es aber für überflüssig sie hier anzuzeigen. Gar viel Tonsetzer erklärten sich für die sogenannte gleichschwebende Temperatur. Und da sie noch gegenwärtig bei vielen in großer Achtung steht; so wollen wir ihre Beschaffenheit hier beschreiben. Vorher aber müssen wir die allgemeinen Grundsätze, wonach jede Temperatur sich richten muss, anzeigen. Das Fundament jeder Temperatur liegt in der Foderung, dass jeder der zwölf Töne des Systems als eine Tonika so wohl in der großen, als in der kleinen Tonart könne gebraucht werden, ohne dass die Anzahl der Saiten vermehrt werde. Dieser Foderung zufolge muss jeder der zwölf Töne, seine Oktave, seine Quinte, Quarte, große und kleine Terz haben; weil dieses die wesentlichen Intervalle sind, auf welchen die Harmonie beruht. Nun findet man aber gar bald, dass es unmöglich sei jedem Tone diese nötigen Intervalle in ihrer Reinheit zu geben, folglich, dass man gezwungen sei einige Intervalle etwas höher, andere etwas tiefer zu lassen als sie in ihrer Vollkommenheit wären. Dieses Abweichen von der Reinheit muss aber nicht so weit gehen, dass die Dreiklänge dadurch ihre konsonierende Natur verlöhren.

 Hier kommt es also zuerst auf die Frage an, um wie viel eine Konsonanz höher oder tiefer als ihre vollkommene Reinheit erfordert, könne genommen werden, ohne ihre konsonierende Natur zu verlieren? Alle Tonsetzer stimmen darin über ein, dass die Oktave völlig rein sein müsse und dass auch die Quinte keine merkliche Abweichung von der Reinheit vertrage. Die Terzen aber sind noch brauchbar, wenn sie allenfalls um ein ganzes Komma von ihrer Reinheit abgehen.

 Dieses sind nun die Grundsätze, nach welchen jede Temperatur zu beurteilen ist. Nun wollen wir die gleichschwebende Temperatur näher betrachten. Sie besteht darin, dass die Oktave als C-c in zwölf völlig gleiche Intervalle geteilt werde, so dass zwischen C und Cis, Cis und D, D und Dis u.s.w. bis H-c. die Stufen völlig gleich seien. Hierzu nun würde erfordert, dass die Längen der Saiten, in Zahlen ausgedrückt, eine Reihe von zwölf Proportionalzahlen ausmachten. Mithin wären zwischen zwei Zahlen, die sich gegen einander verhielten wie 2 zu 1. eilf mittlere Proportionalzahlen zu bestimmen. Dieses ist nun weder durch Rechnen, noch durch geometrische Construktionen möglich. Doch kann man auf beiderlei Art die Längen der eilf Mittelsayten so bestimmen, dass sie von der strengsten Genauigkeit wenig abweichen. Da nun die Oktave aus fünf ganzen Tönen von dem Verhältnis 8/9 und zwei halben Tönen von dem Verhältnis 243/256 besteht2, welche zusammen auch einen ganzen Ton, von beinahe 9/10 ausmachen, so gibt die gleichschwebende Temperatur für die Oktave zwölf halbe Töne, davon zwei ziemlich genau einen ganzen diatonischen Ton von 8/9 ausmachen.

  Ferner hat jede Saite dieser Temperatur ihre Quinte und Quarte, die fast unmerklich von der völligen Reinheit dieser Intervalle abweichen. Denn die Quinten schweben nur etwa um den zwölften Teil eines großen Komma unter sich, folglich die Quarten so viel über sich, welches kaum zu merken ist, die Terzen aber weichen ungefähr um 1/3 eines Komma von ihrer Reinheit ab.

 Da nun durch diese Temperatur alle Konsonanzen beinahe ihre völlige Reinheit behalten, so scheint sie allerdings von allen anderen den Vorzug zu verdienen. Es lässt sich auch erweisen, dass keine Temperatur möglich sei, durch welche gar alle Konsonanzen ihrer Reinheit so nahe kommen als durch diese. Daher ist es ohne Zweifel gekommen, dass sie so viel Beifall gefunden hat.

  Untersucht man aber die Sache etwas genauer, so findet man, dass diese Vorteile der gleichschwebenden Temperatur nur ein falscher Schein sind. Erstlich ist es schlechterdings unmöglich, Klaviere und Orgeln nach dieser Temperatur zu stimmen, wenn nicht jeder Ton in der Oktave nach einem sehr richtig geteilten Monochord besonders gestimmt wird. Denn wer kann sich rühmen nur eine Quinte nach dem Gehör so zu stimmen, dass sie gerade um die Kleinigkeit, die die gleichschwebende Temperatur erfordert, abwärts schwebe? Was auch die geübtesten Stimmer hierüber versichern mögen, so begreift jeder unparteiischer Beurteiler, dass die Sache nicht möglich sei. Wollte man also diese Temperatur annehmen, so müsste bei jedem Klavier auch ein richtig geteiltes Monochord befindlich sein, nach welchem man, so oft es nötig ist, stimmen könnte.

  Wollte man sich aber auch dieses gefallen lassen, so sind noch wichtigere Gründe vorhanden, diese Temperatur zu verwerfen. Es ist offenbar, dass dadurch die Tonarten der Musik nur auf zwei herunter gesetzt würden, die harte und weiche; alle Durtöne wären transponirte Töne des C dur und alle Molltöne transponirte Töne des C mol. Deswegen fielen durch diese Temperatur gleich alle Vorteile, die man aus der Mannigfaltigkeit der Tonarten zieht, völlig weg. Diese sind aber zu schätzbar als dass Tonsetzer von Gefühl sich derselben begeben könnten.3

 Endlich ist auch noch der Umstand zu bemerken, dass in verschiedenen Fällen aus dem reinsten Gesange, den zwei Singestimmen gegen einander führen, Terzen entstehen, die doch merklich höher sind als die, welche die gleichschwebende Temperatur angibt, wie Hr. Kirnberger deutlich bewiesen hat<S>4</S>. In diesen Fällen, würden also die nach der gleichschwebenden Temperatur gestimmten Instrumente, gegen die Singestimmen und Violine schlecht harmonieren.

  Dieses sind die Gründe, die uns bewegen, die gleichschwebende Temperatur ihrer scheinbaren Vollkommenheit ungeachtet, zu verwerfen und ihr die Kirnbergerische vorzuziehen. Die Stimmung dieser Temperatur, die jeder gute Stimmer ohne Mühe treffen kann, ist bereits beschrieben worden5. Es bleibt also hier nur übrig, dass wir ihre Vorteile deutlich anzeigen. Das Hauptverdienst derselben besteht darin, dass sie nicht willkürlich, wie so viel andere Temperaturen, einem Tone zum Schaden der anderen, reine Intervalle gibt, sondern solche, die ein vielstimmiger Gesang natürlicher Weise hervorbringt.

 Wir haben kurz vorher angemerkt, dass, wenn mehrere Stimmen oder Instrumente ohne alle Temperatur, jede für sich nach den reinsten Intervallen fortschreitet, bei ihrer Vereinigung wirklich Harmonien oder Akkorde entstehen, die in verschiedenen Tönen verschiedentlich temperirt sind. Durch einerlei Fortschreitung zweier Stimmen entstehen bei ihrer Vereinigung bald ganz reine, bald etwas erhöhete große Terzen und so auch bald ganz reine, bald etwas verminderte kleine Terzen. Dieses ist so fühlbar, dass geübte Spieler aus diesen so entstandenen Akkorden, den Ton erkennen, aus welchem ein Stück gesetzt ist, die Instrumente mögen höher oder tiefer als gewöhnlich gestimmt sein. Deutliche Beispiele von der Verschiedenheit der Terzen, die auf solche Weise entstehen, hat Hr. Kirnberger in seinem vorher angeführten Werke gegeben.

 Hieraus folgt nun, dass bei dem reinsten Gesange ein Grundton andere große oder kleine Terzen habe als ein anderer. Demnach wäre nicht die Temperatur (wenn sie auch möglich wäre) die beste, die jedem Tone seine reine große Terz in dem Verhältnis 4/5 und seine reine kleine Terz in dem Verhältnis von 5/6 gäbe; weil in einigen Tönen solche Terzen wirklich nicht statt haben, sondern bei dem reinsten und natürlichsten Gesange zweier Stimmen gegen einander, etwas höher oder tiefer werden. Die Hauptsache bei Erfindung einer wahren, in der Natur gegründeten Temperatur kam darauf an, jedem Tone solche Terzen zu geben, die nach der angeführten Bemerkung, ihm natürlich sind. Dass dieses durch die Kirnbergerische Temperatur wirklich geschehe, wird jeder, der im Stand ist Harmonien zu fühlen, von selbst bemerken. Dieses ist der Grund, warum wir sie allen anderen vorziehen und für die einzige natürliche Temperatur halten.

 Wird eine Orgel oder ein Klavier nach dieser Temperatur gestimmt, welches ganz leicht ist 6, so bekommt jeder Ton, wegen der ihm eigenen Akkorde seinen besonderen Charakter, den er immer behauptet, man stimme die Instrumenten in Chor- oder Kammerton oder überhaupt höher oder tiefer als gewöhnlich. Die so genannten Kirchentöne sind nach dieser Temperatur die reinsten und von den anderen Tönen hat jeder seine Art, so dass ein geschickter Tonsetzer den Ton aussuchen kann, der sich in besonderen Fällen für seinen Ausdruck am besten schickt.7 Wer nicht einsieht wie wichtig in gewissen Fällen diese Wahl des Tones sei, der versuche den vortreflichen Chor aus der Graunischen Oper Iphigenia, Mora, mora Ifigenia etc. in C dur oder F dur zu versetzen und gebe bei der Aufführung desselben Acht, wie sehr er seine Kraft in diesen Tönen verlieren wird.

 Erwähnte Temperatur gibt demnach verschiedene Tonleitern, deren jede sich vorzüglich zu gewissen Charakteren des Ausdrucks schickt. Hierbei wollen wir beiläufig anmerken, dass sowohl das Dis als Gis dur nach dieser Stimmung gerade die diatonische Tonleiter des Pythagoras haben, die wir an seinem Orte beschrieben haben.8 Wer also wissen will, wie dieses alte System klingt, kann es auf einer Orgel, die nach unserer Temperatur gestimmt ist, im Spielen aus Dis und Gis dur erfahren.

  Übrigens haben wir bereits anderswo angemerkt, dass in dieser Temperatur nur drei temperirte Quinten vorkommen,9 so dass die Abweichungen bloß auf solche Intervalle kommen, die sie ertragen oder gar erfodern. Es ist demnach zu wünschen, dass diese Temperatur durchgehends eingeführt werde.

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1 S. Stimmung.

2 S. System.

3 S. Tonarten und Ton.

4 S. Dessen Kunst des reinen Satzes. S. 11. 12.

5 S. Stimmung.

6 S. Stimmung.

7 S. Ton.

8 S. System. S. 1126 .


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