Fassen wir nun alles, was zum vollkommen Trauerspiel gehört, kurz zusammen, so zeigt sich, dass folgende wesentliche Dinge dazu gehören. Die Handlung muss ganz und vollständig sein von ernsthaftem Inhalte, ein einziges wichtiges Interesse muss darin statt haben und sie muss eine eingeschränkte Größe haben: alles muss darin zusammen hängen, es muss nichts geschehen, das den Haupteindruck nicht vermehrt, nichts davon man den Grund nicht einsieht. Alles muss wohl geschlossen, ohne Mangel und ohne Überfluss sein. Der Dichter muss uns die Hauptperson keinen Augenblick entziehen, es muss nichts geschehen, das die Handlung unvollkommen macht. Die Verwicklungen müssen nicht zu künstlich und die Auflösungen nicht wiedernatürlich, nicht gewaltsam sein. Die Sitten der Personen müssen groß und edel sein und in den Charaktern eine hinlängliche Mannigfaltigkeit sein. Die Leidenschaften müssen stark aber nicht übertrieben und den großen Sitten anständig sein.
Die Reden müssen überhaupt den Sitten und den Leidenschaften angemessen sein. Es muss nichts gesagt werden, was nicht zur Sache gehört, am wenigsten etwas, das den Eindruck schwächt, (ein Fehler darin Shakespeare oft verfällt,) Ton und Ausdruck, müssen für jeden Charakter und für jede Leidenschaft besonders abgepasst sein. Die Sittensprüche müssen wichtig sein und ohne alle zubemerkende Veranstaltung von selbst aus der Empfindung entstehen.
Über den Ursprung des Trauerspiels ist viel Fabelhaftes von den Alten geschrieben und von den Neuern ohne Überlegung und bis zum Ekel wiederholt worden. Die gewöhnliche Erzählung, da man ihren Anfang von des Thespis Karre macht und denn so, wie Horaz fortfährt, ist die gewöhnlichste, aber gewiss fabelhaft. Der Mensch hat eine natürliche Begierde Zeuge von großen und ernsthaften Begebenheiten zu sein, die Menschen bei denselben handeln und leiden zu sehen. Darin liegt der erste Keim vom Ursprung des Trauerspiels, das aus eben diesen Grund älter als die Komödie scheint.
Aller Vermutung nach, hat dieses das tragische Schauspiel bei mehreren Völkern, ohne dass eines die Sache von dem anderen abgesehen habe, veranlasst. Man muss also eben nicht glauben, dass die Griechen es erfunden haben. Aber sehr alt scheint es bei ihnen zu sein. Stanlei führt in seinen Anmerkungen über den Äschylus eine Stelle aus einem alten Scholiasten an, welcher sagt, dass zu des Orestes Zeiten ein gewisser Thomis zuerst dramatische Spiele den Griechen sehen lassen. Suidas nimmt für ausgemacht an, dass Thespis der sechszehnte in der Zeitfolge gewesen sei; für den ersten gibt er einen gewissen Epigenes aus Sicyon an, der mehr als hundert Jahr vor dem Thespis gestorben.
Obgleich nach der gewöhnlichen Erzählung Äschylus der erste gute Trauerspieler gewesen, so nennt Suidas Stücke, die den Phrynichus, einen berühmten Dichter zum Urheber hätten und auch Eusebius nennt andere vor jenen. Plato sagt ausdrücklich, dass die Tragödie lange vor Thespis im Gebrauch gewesen8). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die feierliche Begräbnis großer Helden das Trauerspiel veranlasst haben, da die vornehmsten Taten des Verstorbenen dabei vorgestellt worden. Wir finden, dass verschiedene Dichter bei dem Grabe des Theseus um den tragischen Preis gestritten haben. Diese Art des Wettstreites hat sich lang unter den Griechen erhalten. Artemisia hat bei dem Begräbnis ihres Gemahls Mausolus Wettstreite zu seinem Lobe halten lassen, die vermutlich aus Tragödien bestanden haben; denn A. Gellius9) sagt, dass noch zu seiner Zeit eine Tragödie, Mausolus, von dem Theodecktes, der einer der Streiter war, vorhanden gewesen sei. Es herrscht also in der Geschichte dieses Gedichts große Ungewissheit. Und wie soll man folgende Stelle des Aristoteles verstehen? »Dieser (Aristarchus) war ein Zeitverwandter des Euripides, welcher zuerst dem Drama, die jetzige Form gegeben.«10) Doch stimmen die Nachrichten und Mutmaßungen darin überein, dass die Gesänge des Chors, so wie im Trauerspiel, also auch in anderen Gattungen des Drama ursprünglich der wesentlichste Teil desselben gewesen. Deswegen wurde die zwischen den Chören vorkommende Handlung Episodium genannt. Aristoteles sagt, dass die ältesten Chöre von Satyren gesungen worden und Casaubonus 11) führt eine Stelle aus dem Didymus an, aus welcher erhellt, dass die Chöre des Trauerspiels ursprünglich Dithyramben oder Lieder auf den Bacchus, abgesungen haben. Wenn man sich hierbei erinnert, dass die Alten die Geschichten einiger Götter bei gewissen heiligen Festen, durch allegorische Handlungen unter feierlichen Gesängen vorgestellt haben, wie in Ägypten die Geschichte des Osiris und der Isis, in Syrien die Geschichte der Venus und des Adonis, in Griechenland die Geschichte der Ceres und Proserpina, imgleichen des Bacchus und noch dabei bedenkt, dass die Trauerspiele sowohl als die anderen dramatischen Spiele zu den feierlichen Handlungen einiger heiligen Feste gehört haben; so wird es wahrscheinlich, dass das Drama überhaupt in seinem Ursprung nichts anders gewesen als die Vorstellung einer geheimen Geschicht aus der Götterhistorie. Nach vielen Veränderungen hat sich danach, wie Aristoteles ausdrücklich berichtet, seine ursprüngliche Natur verloren und ist das geworden, was es zu seiner Zeit gewesen.12) Und hieraus lässt sich auch begreifen, woher die so große Verschiedenheit in den alten Nachrichten über den Ursprung des Trauerspiels entstanden. Es ist aber der Mühe nicht wert hierüber weitläufiger zu sein. Vielleicht lässt sich der anscheinende Widerspruch der sich in den Nachrichten der Alten findet, auch dadurch heben, dass man annimmt, die Tragödie sei in ihren Ursprung bloß ein Gesang von traurigem Inhalt gewesen, dadurch eine Art Rhapsodisten große Unglücksfälle fürs Geld besungen haben. Lucianus13) führt ein altes Sprüchwort an, das dieses zu bestätigen scheint und aus welchem abzunehmen ist, dass einige trojanische Flüchtlinge, vermutlich an einem Orte, da sie sich nach Zerstörung ihrer Stadt niedergelassen, einen Tragödiensänger gemiethet hatten, um sich die Zeit zu vertreiben und dass dieser, ohne zu wissen, wer sie sind, die Trauergeschicht von der Zerstörung Troja gesungen habe.
Aus den Trauerspielen der Griechen, die wir noch haben, lässt sich sehen, dass sie ihre letzte Form erst zu den Zeiten des Sophokles bekommen hoben. Denn die Trauerspiele des Äschylus, der kurz vor dem Sophokles gelebt hat, sind gegen das, was seine Nachfolger auf die Bühne gebracht haben, noch rohe, bloß aus dem groben gearbeitete Versuche, aber Versuche, an denen bereits die Hand eines großen Meisters zu sehen ist.
Man hält durchgehends dafür, dass das Trauerspiel, so wie Sophokles es bearbeitet hat, in der höchsten Vollkommenheit, deren es fähig ist, erscheine. Die Neueren haben auch, so weit ihr Genie und der Geschmack es ihnen verstattet haben, diese Form, doch mit Ausschließung der Chöre, beibehalten. Ob durch diese Weglassung das Trauerspiel gewonnen oder verloren, wollen wir nicht untersuchen, da man jetzt durchgehends darin übereinkommt, dass im Trauerspiel nicht mehr soll gesungen werden, die Chöre aber den Gesang notwendig machen. Darin bilden sich einige neuere ein, dem Trauerspiel Vorteile verschaft zu sehen, dass der Raum zwischen den Aufzügen, der ehemals durch die Gesänge des Chors ausgefüllt worden, jetzt besser dazu angewendet wird, dass die Handlung hinter der Bühne inzwischen fortrückt, welches bei den Alten nicht geschehen. Dass aber dieses eine Verbesserung sei, wird nicht jedermannn eingestehen. Vielen kommt es als ein elendes Hilfsmittel vor, die Mängel in der Anordnung der Fabel zu bedecken. Es wäre zu versuchen, was für eine Wirkung es täte, wenn zwischen den Aufzügen Chöre erschienen, die durch feierliche Gesänge, einige Eindrücke des vorhergegangenen Aufzuges, noch tiefer einprägten. Freilich sind dergleichen Aufzüge, da wir gar zu sehr alle feierliche öffentliche Handlungen eingehen lassen, etwas fremde.
Das griechische Trauerspiel kommt uns in Vergleichung des heutigen, besonders des französischen, vor, wie die griechischen Statuen eines Phidias, gegen die von Pigalen oder gegen die gemalten Bilder eines Watteau. Jenes zeigt bei der edelsten Einfalt und in seiner nakenden Gestalt eine Vollkommenheit, eine Größe, die sich der ganzen Seele bemächtigt; diese scheinen durch Lebhaftigkeit der Gebärden und der Stellungen und durch redende Minen schön. Aber diese Gebärden und Reden, drucken ganz gemeine und alltägliche Dinge aus, die im Gemüte nichts als die Lebhaftigkeit des Ausdrucks zurück lassen. Daher wir den Verlust so vieler hundert griechischer Trauerspiele sehr bedauren. Denn die Griechen haben eine große Menge tragischer Dichter gehabt, deren Verzeichnis beim Fabricius14) zu finden. Die Anzahl der Stücke, deren die Alten erwähnen, beläuft sich weit über tausend, davon kaum noch dreißig übrig sind, welche den Äschylus, den Sophokles und den Euripides zu Verfassern haben.
Die Römer waren, wie es scheint, auch in diesem Stück weit hinter den Griechen zurück geblieben. Die einzigen römischen Trauerspiele, die wir unter dem Namen des Seneka noch haben, sind noch weiter hinter der Vollkommenheit der griechischen Stücke zurück als die guten Stücke der Neuern. Doch scheint es, dass sie auch gute Trauerspiele gehabt, in deren Vorstellung man sich mit großer Gewalt gedrängt hat. » Suche reich zu werden, sagt Horaz; es sei mit Recht oder Unrecht, damit du nur die Trauerspiele des Pupius in der Nähe sehen könnest.15)« Es scheint, dass unter den Neueren die Spanier zuerst das Trauerspiel wieder nach der guten Art der Alten einzuführen gesucht haben. Ein spanischer Schriftsteller16) versichert, dass schon im Jahr 1533 Fernand Peres de Oliva zwei gute Trauerspiele, die Rache des Agamemnon und die betrübte Hekuba geschrieben habe. In Frankreich sind die ersten guten Trauerspiele von P. Corneille auf die Bühne gebracht worden und gleich nach ihm hat Racine sie zu der Vollkommenheit gebracht, die sie nachher in diesem Lande nicht scheinen überschritten zu haben; wie wohl noch nach ihm viele, besonders aber Crebillon und Voltaire viel gute Stücke geliefert haben, die, wenigstens in einzelnen Szenen, selbst gegen die griechischen nicht zu verwerfen sind.
Das größte tragische Genie unter den Neuern, vielleicht auch überhaupt, haben die Engländer an dem bewunderungswürdigen Shakespeare gehabt, dem es aber bei diesem großen Genie an gereinigten Geschmack gefehlt hat. In seinen besten Stücken kommen neben Szenen von der höchsten tragischen Vollkommenheit, solche die ins Abenteuerliche fallen. In Deutschland scheint eine schon ziemlich helle Dämmerung diesem Teile der Kunst bald einen vollen Tag zu versprechen.
__________________
8) S. Plat. Alcib. II. gegen das Ende.
9) L. X. c. 17.
10)
11) De satyrica poesi.
12)
13) Luc. in den Fischen.