Die Sitten in der Tragödie

Der zweite wesentliche Punkt, worauf es beim Trauerspiel ankommt, betrifft nach dem Aristoteles die Sitten und darunter scheint er alles zu begreifen, was zum Charakter, der Denkungsart und den Quellen der Handlungen der Personen gehört. Wenn der Philosoph, wie es scheint, die Fabel wirklich für das wichtigste Stück des Trauerspiels gehalten hat, so können wir nicht seiner Meinung sein, weil es uns außer Zweifel scheint, dass die Sitten ein wichtigerer Teil seien. Eine der vornehmsten und wichtigsten Fabeln, die jemals auf die tragische Bühne gekommen, ist die vom Oedipus in Theben. Eine wütende Pest droht der ganzen Stadt den Untergang; die Priester geben vor, sie werde nicht eher nachlassen, bis der Mörder des vorigen Königs entdeckt und bestraft sei. Oedipus, der wegen seiner vortreflichen Regierung angebetet wird, setzt sich vor alles mögliche zu tun, um den Mörder zu entdecken und zu strafen. Es ergibt sich aus der Untersuchung, dass er selbst, ohne es gewußt zu haben, dieser Mörder ist, dass der ermordete König sein Vater gewesen; dass die Königinn, die er geheiratet hatte, seine leibliche Mutter ist; dass seinen Ältern vorhergesagt worden, ihr Sohn würde seinen Vater umbringen und seine Mutter zur Gemahlin nehmen; dass zur Vereitelung dieser Prophezeiung der Vater gleich nach seiner Geburth ihn in eine Wildnis den Tieren auszusetzen befohlen habe; dass alles dessen ungeachtet er am Leben geblieben und durch die seltsamste Fatalität alles wirklich begangen habe, was vorher gesagt worden. Nach dieser Entdeckung sticht er sich selbst die Augen aus, verlässt den Thron und die Stadt und besänftiget dadurch den Zorn der Götter. Dies ist die Fabel. Wunderbar, höchst seltsam und sehr tragisch. Man kann daraus sehen, dass der Mensch seinem Schikcksal nicht entgehen kann, dass auch dem rechtschaffensten Menschen schreckliche Unglücksfälle betreffen können. Aber alles dieses scheint doch weniger wichtig zu sein als die Empfindungen und die Äußerung der Leidenschaften und des Betragens der intereßirten Personen bei solchen Umständen. Wir wollen den Oedipus, die Königin, seine Freunde, das Volk hierbei näher kennen lernen, ihre Gedanken, ihre Leidenschaften, ihr Betragen nach den kleinsten Umständen wissen und dieses scheint uns bei dieser Sache das Wichtigste zu sein. Wenn man uns erzählt, dass ein Schiff durch Sturm so lang in der See gehalten worden, bis alle Lebensmittel verzehrt worden; dass der Hunger so sehr überhand genommen, dass das Volk einen Menschen geschlachtet und sich von dessen Fleisch genährt habe und dass in dem Augenblick, da der zweite sollte geschlachtet werden, ein Schiff in der Ferne entdeckt worden, das den Unglücklichen Rettung gebracht; so erstaunt man zwar über einen solchen Fall; aber die nähern Umstände zu wissen, das Jammern der Leute zu hören, ihren Beratschlagungen beizuwohnen, die Empfindungen, Leidenschaften und das Betragen eines jeden zu sehen, scheint doch das Wichtigste bei der Sache zu sein.

Das erste, was der Dichter in Ansehung der Sitten zu beobachten hat, ist, ihnen eine gewisse Größe zu geben. Die Menschen die er handeln lässt, müssen Menschen von der ersten oder obersten Gattung sein. Nicht eben in Ansehung ihres Ranges und Standes, die ihnen nur eine äußerliche Größe geben, die zwar auch etwas zur Wirkung beiträgt, aber den Sachen noch nicht den wahren Nachdruck gibt; sondern Menschen, deren Gemütskräfte das gewöhnliche Maß überschreiten. Es gibt unter Menschen vom höchsten Rang kleine schwache Seelen und unter dem gemeinsten Haufen Männer von großem und starkem Gemüte. Die Größe in den Sitten ist die Größe der Seele, sowohl im Guten als im Bösen. Sie zeigt sich in durchdringendem Verstand, in starkem männlichen Mut, in kühnen Entschließungen, in Absichten und Begierden, die etwas Großes zum Grunde haben, in gefährlichen oder auf wichtige Dinge abzielenden Leidenschaften. Im Trauerspiel müssen wenigstens die Hauptpersonen Menschen sein, deren Kräfte, von welcher Art sie seien, große Veränderungen in Absicht auf Glück und Unglück hervorzubringen im Stande sind.

Es scheint als wenn einige neuere tragische Dichter das Große in der Heftigkeit der Leidenschaften setzen, die es allein nicht ausmacht. Auch ein Kind, ein schlechter Mensch, eine schwache Frauensperson kann in heftige Leidenschaften geraten. Aber es können vanæ sine viribus iræ sein. Ein Kind, das sich über eine Kleinigkeit erboßt, ein nichtsbedeutender Mensch, der mit der größten Heftigkeit eine Kleinigkeit zu erhalten sucht, eine schwache Frauensperson, die sonst in der Welt keine wichtige Rolle spielt, aber vor Liebe rasend worden, sind keine tragische Gegenstände. Es ist nicht diese Größe, die wir in den Sitten verlangen.

Man muss uns Menschen zeigen, deren Denkungsart, deren Absichten, deren Triebfedern der Handlungen uns wichtig scheinen und die im Stand sind, Dinge zu bewirken, die auch in männlichen Gemütern Furcht oder Bewunderung erwecken. Es ist also ganz natürlich, wie wohl nicht schlechterdings notwendig, dass man zum Trauerspiel Personen vom höchsten Range nimmt. Denn diese haben natürlicher Weise größere Absichten als geringe Menschen; ihnen sind gemeinhin keine Kleinigkeiten mehr wichtig; die größeren Geschäfte, deren sie gewohnt sind, geben ihnen auch eine größere Denkungsart; ihre Tugenden und Laster, ihre Fehler und ihre Klugheit sind von wichtigern Folgen. Da es aber auch unter den Großen kleine Seelen gibt, und auch an Höfen der Monarchen bisweilen Kleinigkeiten durch sehr verwickelte Intriguen betrieben werden, so hat das Trauerspiel noch deswegen keine Größe, wenn hohe Personen darin aufgeführt werden; denn auch diese können in ihren Sitten ohne alle Größe sein.

Die Menschen also, die man uns im Trauerspiel zeigt, müssen Menschen von einer beträchtlichen moralischen Größe sein. In ihren Reden und Urteilen muss sich ein großer Verstand, Kenntnis und Erfahrung der Welt zeigen; in ihren Absichten muss nichts kleines sein, sondern sie müssen auf Dinge gehen, die kein Mensch von Verstand verachten kann; ihr Gemüt muss eine männliche Stärke haben, ihre Leidenschaften müssen wichtige Folgen versprechen. Dieses sind die zur Größe der Sitten gehörigen Punkte, die wir den Dichtern zu ernsthafter und anhaltender Überlegung anheim stellen.

Vielleicht fällt hier Jemanden der Zweifel ein, warum eine solche Größe der Sitten im Trauerspiel eben nötig ist; warum man nicht könnte ernsthafte Handlungen, so wie sie etwa unter einem einfältigen, sanftmütigen Volke, das keine große Angelegenheiten kennt, so wie uns etwa die Dichter die Menschen des goldenen Zeitalters oder einer Schäferwelt vorstellen, auf die tragische Bühne bringen. Hierauf können wir anmerken, dass dergleichen Sitten in Trauerspielen, die in einer Schäferwelt aufzuführen wären, sich allerdings recht gut schicken würden. Aber in großen politischen Gesellschaften, wo der Charakter und die Handlungen eines Menschen, das Schikcksal vieler Tausenden bestimmen können; wo man schon gewohnt ist, große Dinge zu sehen, große Dinge zu begehren, sehr verwickelte Gegenstände zu betrachten; wo man Menschen findet, die großer Dinge fähig sind; wo man Fälle erlebt hat, die von erstaunlichen Folgen gewesen, in einer solchen Welt gehören Sitten von der Größe, wie wir sie beschrieben haben, auf die tragische Bühne, um bei dem Zuschauer ernsthaftes Nachdenken und starke Empfindungen zu erwecken. Die Menschen, welche in großen politischen Gesellschaften leben, sind überhaupt von einer höheren Gattung als jene im Stande der Natur lebenden; sie nehmen in allem, wo sie ihre Tätigkeit zeigen, einen höheren Schwung; das was unter der Größe ihrer Gattung ist, reizt ihre Aufmerksamkeit nicht. Man muss ihnen also Sitten, die nach ihrer Art groß sind, vorstellen.

Freilich muss der Dichter, der für ein besonderes Volk arbeitet, die Größe der Sitten nach der Denkungsart seines Volks abzumessen wissen. Wer in der Tragödie Nationalgegenstände bearbeitete, der müsste dieses notwendig beobachten. Es wäre ungereimt, einem Staatsmann, einer kleinen Republick Gesinnungen eines großen Monarchen oder die Größe der Absichten eines römischen Consuls zu geben. Aber die schönen Künste sind in Absicht ihrer Anwendung nicht in der Verfassung, dass sie auf Nationalbedürfnisse angewendet würden. Daher auch die genaue Abmessung der Größe in den Sitten nicht beobachtet wird.

Bei der Größe der Sitten hat der Dichter sich wohl in Acht zu nehmen, dass er nicht ins Übertriebene oder gar ins Abenteuerliche falle; eine falsche Größe, die ins Kleine und so gar ins Abgeschmackte ausartet. Die Grenzen, an denen das Große aufhört und ins Übertriebene fällt, lassen sich fühlen, aber nicht abzeichnen. Hier helfen keine Regeln; ein gesunder Verstand und eine scharfe Beurteilungskraft des Dichters, können allein ihn vor diesem Fehler bewahren. Wenn er nicht merkt, wo die Kühnheit an die Tollheit, der Zorn an die Raserei, Zuversichtlichkeit an Großsprecherei, Verstand an Spizfindigkeit, Großmut an Schwachheit grenzt, so kann ihn niemand vor Ausschweifungen bewahren. Das Trauerspiel erfordert einen Mann, der selbst groß in seinen Sitten ist. Für junge, in der Welt unerfahrne, in ihrer Lebensart eingeschränkte, mit bloßer Schulkenntnis versehene Leute, für solche, die mehr Einbildungskraft als Verstand haben, die von Kleinigkeiten großes Aufheben machen, schickt sich der Cothurn nicht und wenn sie auch alle Regeln der Kritik vollkommen inne hätten. Dazu gehören Männer, die groß denken, groß fühlen und selbst groß zu handeln im Stande sind.

Nach der Größe in den Sitten kommt ihre Wahrheit in Betrachtung, nicht eben die historische sondern die poetische. Was jede Person redt und tut, muss in ihrem Charakter und in den Umständen gegründet sein; man muss die Möglichkeit, dass sie so denken, so empfinden und so handeln einsehen können, sonst fällt die Täuschung und die Teilnehmung, die zum Drama so nötig sind, ganz weg. Man muss hierbei, wie Aristoteles angemerkt hat, auf zwei Dinge sehen, die zur Wahrheit der Sitten gehören; auf das Notwendige und auf das Schickliche. Das Notwendige in den Sitten, ist wie alles andere Notwendige in den Künsten, davon der besondere Artikel darüber nachzusehen, so wie auch über das Schickliche besonders gehandelt worden.2)

Noch eine Hauptanmerkung über die Sitten ist, dass dieselben mannigfaltig und mit guter Wahl gegen einander gestellt oder contrastirt sein müssen. Die Verschiedenheit in den Sitten bringt Lebhaftigkeit in die Handlung, indem sie Schwierigkeiten und Bestrebungen hervorbringt und indem Gegeneinanderstellung die Charaktere deutlicher bezeichnet.

 

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2) S. Notwendig; Schicklich.

 


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