Charakter und Leidenschaft als Handlung

Es gibt Charaktere die verdienen vor einem ganzen Volk entweder zur Bewunderung und Verehrung oder zum Schrecken, Abscheu oder Hass entwickelt zu werden. Dies ist so offenbar, dass es keiner Ausführung bedarf. Hat sich ein Dichter vorgesetzt einen solchen Charakter im Trauerspiel zu behandeln, so kommt es auf eine kluge Wahl der Handlung an. Diese muss nicht notwendig groß sein; denn auch in geringern Handlungen kann sich ein sehr wichtiger Charakter entwickeln. So hat Sophokles den Charakter des Tyrannen Kreon in seiner Antigone in einem wahrhaftig tragischen Licht gezeigt, obgleich die Handlung des Stücks an sich keine vorzügliche Größe hat. Eine geringscheinende Sache kann von wichtigen Folgen sein; also könnte der Minister eines eigensinnigen Monarchen das Äußerste versuchen, seinen Herren von einer an sich wenig scheinbaren Sache, wegen der schlimmen Folgen, die er davon voraussieht, abzuhalten und dadurch könnte der Dichter sich die Gelegenheit machen, einen sehr großen Charakter in ein helles Licht zu setzen.

In dieser Art des Trauerspiels würde die Handlung durch die Größe der Charaktere wichtig; und sie ist deswegen schätzbar, weil sie dem Dichter die Wahl der Handlung sehr erleichtert. Man findet überall in der Geschichte der Völker große Charaktere; aber selten sind große Handlungen oder Begebenheiten, die zur Vorstellung auf der Schaubühne schicklich wären. So sind z.B. der Tod des Cato oder die Entlassung der Bereinice von dem Hofe des Titus keine Begebenheiten, die als solche, sich zur Tragödie schickten, wenn sie nicht durch die Größe der Charaktere des Cato und Titus, dazu erhoben würden. Darin besteht also das Wesen dieser Art, dass sie ihre Größe oder Würde durch den Charakter der Personen, der sich dabei in vollem Lichte zeigt, erhalten. So ist der Prometheus des Äschylus; ein sonderbares Trauerspiel, das bloß durch den erstaunlichen Charakter des Prometheus merkwürdig wird. So könnten der Tod des Sokrates, des Cicero, des Seneka, Stoff zu Tragödien dieser Art geben. Die Handlung oder Begebenheit würde in keinem dieser drei Fällen für die tragische Bühne groß genug sein; aber der Charakter des Helden könnte so behandelt werden, dass das Stück die Größe und das Pathos, die zum Trauerspiel erfordert werden, dadurch erhielten.

Trauerspiele von Leidenschaften, wären solche, an denen man die fatale Wirkung großer aber vorübergehender Leidenschaften vor Augen legte, des Zorns, der Eifersucht, der Rache, des Neides und dergleichen. Auch hier ist die Begebenheit selbst das wenigste, nur muss freilich bei schädlichen oder gefährlichen Leidenschaften, die Fabel so eingerichtet sein, dass dieselben unglückliche Wirkungen haben. In dem Leben des Alexanders kommen verschiedene tragische Ausbrüche vorübergehender Leidenschaften vor, die für das Trauerspiel sehr bequem wären. Der Zorn, der den Tod des Klitus verursachte; die Reue, die darauf folgte; die Raserei, während welcher er Persepolis in Brand steckte und noch mehr dergleichen vorübergehende Ausbrüche heftiger Leidenschaften, könnten auf eine wahrhaftig tragische Art behandelt werden.

Zu Trauerspielen von Begebenheiten, müssen wichtige Unglücksfälle zum Grund der Handlung gelegt werden, die schon an sich interessant genug sind und die der Dichter noch dadurch merkwürdiger macht, dass er die verschiedene Wirkungen derselben auf Personen von hohem Stand, Rang, von merkwürdigem Charakter zeigt. Dem Staat den Untergang drohende Niederlagen der Kriegesheere, Pest, Verwüstungen ganzer Länder, plötzlich einreißende allgemeine Not, sind Begebenheiten, die leicht zu behandeln sind und wobei der Dichter die an der Handlung teilnehmende Personen, in sehr merkwürdigen Gemütsfassungen zeigen kann.

Endlich hat man noch Unternehmungen, die zum Grund der Handlung können gelegt werden.

Veränderungen im Staat, Unterdrückung eines Tyrannen, Hintertreibung eines großen Projekts und dergleichen. Diese Art ist vielleicht die schwerste sowohl in Behandlung der Charaktere als in Ansehung des Mechanischen der Kunst. Dieses wären also die Hauptgattungen des Trauerspiels. Es ist nicht zu zweifeln, dass ein Dichter, wenn er nur die Beschaffenheit der dramatischen Handlung überhaupt wohl studiert und die Gattung des Trauerspiels gewählt hat, nicht bald den Weg finden sollte, dasselbe ordentlich und gründlich zu behandeln.

Es verdient hier besonders angemerkt zu werden, auf wie vielerlei Art das Trauerspiel nützlich sein könne. Bei den beiden ersten Gattungen ist dieses offenbar genug. Der Dichter hat unmittelbare Gelegenheit dabei, das Gute in den Charakteren und Leidenschaften der Verehrung und Bewunderung der Zuschauer, das Böse der Verabscheuung und dem Hass derselben, darzustellen. Hier ist also der Nutzen unmittelbar und der Dichter kann leicht vermeiden, dass der Einwurf, den Plato überhaupt gegen das Trauerspiel macht, dass es durch Nachahmung böser Sitten das Gemüt nach und nach an dieselben gewöhne und den billigen Abscheu dafür schwäche, ihn nicht treffe. Er muss sich hüten, Mitleiden für böse Menschen zu erwecken; das Laster muss er mit Abscheu, heftige Leidenschaften aber mit Furcht und Schrecken zu begleiten suchen. Dieser Philosoph hält überhaupt die heftigen Leidenschaften für unanständig und es scheint als wenn er auch bloß deswegen das Trauerspiel verwerfe, weil man den Menschen nicht zu heftigen Leidenschaften reizen soll.

Etwas gründliches ist ohne Zweifel in seiner Bedenklichkeit. Es gibt Leidenschaften, die, wenn man sie oft und stark fühlt, das Gemüt erniedrigen und die Nerven des Geistes schwächen. Von dieser Art sind die Zärtlichkeit und die Traurigkeit. Sie haben aber in den zwei ersten Gattungen selten statt; wir werden gleich davon sprechen. Allein Abscheu vor großen Lastern, Furcht und Schrecken als Folgen von übertriebener Leidenschaft, können nicht zu weit getrieben werden. Man muss nur das Weichliche, Weibische oder gar Kindische vermeiden.

Nur vor einer Art des Übertriebenen muss der Dichter gewarnet werden. Die alten Dichter scheinen in Behandlung der Charaktere und Leidenschaften sich näher an der Natur gehalten zu haben als die meisten Neuern. Diese übertreiben die Sachen gar zu oft. Mancher Dichter scheint nur den Menschen für grausam zu halten, der alles um sich herum ermordet; nur den für zaghaft, der die Luft mit Heulen und Jammern erfüllt, nur den für standhaft, der wie jene abenteuerliche Ritter in tausend Gefahren sich mit der größten Unbesonnenheit stürzt und ganze Heere erlegen will. In diesen Fehler ist der große Corneille gar oft gefallen. Man sieht leicht, dass eine solche Behandlung der Leidenschaften und der Charaktere nicht nur von keinem Nutzen, sondern gar schädlich sei. Eine prahlerische Größe erweckt keine Bewunderung mehr und alles Übertriebene in den Leidenschaften, die man uns vorbildet, wird kalt und ohne Kraft.

Liebe, Bewunderung, Hass und Abscheu, sind die Leidenschaften, welche die zwei ersteren Arten des Trauerspiels in dem Zuschauer erwecken sollen. Sie müssen aber nicht erzwungen, nicht durch übernatürliche Gegenstände mit Gewalt, nicht durch Überlistung, wie bei Kindern, sondern auf eine natürliche Weise, auf eine Art, die auf nachdenkende männliche Gemüter wirkt, nach und nach erzeugt werden. Man muss uns das Innere der Charaktere und Leidenschaften, nicht nur das Äußere derselben sehen lassen.


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