Täuschung. (Schöne Künste) Die Täuschung ist ein Irttum, in dem man den Schein einer Sache für Wahrheit oder Wirklichkeit hält. Wenn wir bei einem Gemälde vergessen, dass es bloß die todte Vorstellung einer Szene der Natur ist und die Sache selbst zu sehen glauben; so werden wir getäuscht. Dieses geschieht auch, wenn wir eine Handlung auf der Schaubühne so natürlich vorgestellt sehen, dass wir dabei vergessen, dass das, was wir sehen, bloß Nachahmung ist, und die Schauspieler wirklich für die Personen halten, die sie vorstellen.
Man sieht sogleich, dass die gute Wirkung vieler Werke des Geschmacks von der Täuschung herkommt, die sie in uns bewirken. In den Werken, die natürliche Gegenstände schildern, sie seien aus der körperlichen oder sittlichen Welt genommen, kommt die Hauptsach auf die Täuschung an. Weiß der Künstler sie zu bewirken, so ist er ziemlich Meister über die Gemüter der Menschen; er kann sie mit Lust oder Verdruss, mit Fröhlichkeit oder Schrecken erfüllen. Es ist demnach ein sehr wesentlicher Punkt in der Theorie der Künste, dass die Ursachen der Täuschung untersucht und die Mittel, wodurch sie erhalten wird, angezeigt werden.
Die gänzliche, völlige Täuschung, wie die war, da der Ritter von Mancha in dem Marionettenspiel von Dom Gaiforos und der schönen Melisandra, die Marionetten für die wirklichen Personen hielt und den Degen gegen hölzerne Puppen zog, hat große Ähnlichkeit mit dem Traume, in welchem wir unsere Phantasien für Empfindungen der Sinne halten.
Deswegen kann auch die Betrachtung der eigentlichen Beschaffenheit der Träume, uns einiges Licht über die wahren Ursachen der Täuschung geben.
Die Ursachen der Täuschung in den Träumen, sind offenbar. Sie beruht auf einer gänzlichen Schwächung derjenigen sinnlichen Empfindungen, die uns Vorstellungen von den äußerlichen persönlichen Umständen, in denen wir uns befinden, erwecken. Wenn wir uns bloß innerer Vorstellungen bewußt sind, denen nichts beigemischt ist, das sich auf die Zeit, den Ort und alles, was zu unseren äußerlichen persönlichen Umständen gehört, so kann es nicht anders sein als dass wir die Vorstellungen der Einbildungskraft für wirkliches Gefühl halten; weil gar nichts in den Vorstellungen ist, das uns des Gegenteils versicherte. Wir müssen notwendig uns einbilden, wir seien an dem Orte, in dem uns die Phantasie versetzt hat, wenn wir von dem wirklichen Orte, da wir uns befinden, nichts fühlen; notwendig glauben, dass die Personen, deren Bilder nur in der Einbildungskraft liegen, zugegen seien; wenn unser Auge dann nichts empfindet, das uns des Irrtums überführen könnte.1 Wenn also gar alles Gefühl unseres äußerlichen Zustandes aufhört und bloße Vorstellungen der Phantasie klar bleiben, so ist die Täuschung vollkommen; ist aber jenes Gefühl bloß schwach, und weniger lebhaft als die Vorstellungen der Phantasie, so ist sie zwar nicht vollkommen, aber doch hinreichend genug, dass wir von den Gegenständen der Phantasie so stark gerührt werden als von wirklichen Eindrücken der Sinnen.
Wenn also Dichter und Schauspieler durch das Drama so viel bei uns wirken können, dass die Vorstellungen und Empfindungen von unserem äußerlichen Zustande, die wir währendem Schauspiel haben, schwächer werden als die, welche die Szene selbst gibt; so haben sie die Täuschung hinlänglich erreicht. Man sieht aber leicht ein, dass dieses nicht bloß von der Beschaffenheit der Werke der Kunst, sondern zum Teil auch von uns selbst abhängt. Wer sich nicht in der Gemütslage befindet, sich den Eindrücken, die von der Kunst herrühren, zu überlassen oder sonst keine Wärme des Gefühls und der Phantasie hat, der ist schwerlich zu täuschen. Der Künstler muss also Menschen von Empfindsamkeit und einiger Lebhaftigkeit der Einbildungskraft voraussetzen. Hat er solche, so liegt ihm ob, sein Werk so darzustellen, dass es hinlängliche Täuschung bewirkt.
Hierbei kommt es überhaupt auf eine gänzliche Feßlung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Kunst an. Denn es ist bekannt, dass das Anstrengen der Aufmerksamkeit auf einen Teil unserer Vorstellungen, die anderen, wenn sie gleich durch die Sinne erweckt werden, so sehr schwächt, dass man sie oft nicht mehr gewahr wird. Wenn wir demnach im Schauspiel verleitet werden, die Aufmerksamkeit völlig auf das zu richten, was auf der Szene vorgeht, so vergessen wir den Ort, wo wir uns befinden, die Zeit des Tages und andere Umstände unserer wirklichen äußerlichen Lage und bilden uns so gut als im Traum, ein, wir seien an dem Orte, den die Szene vorstellt und sehen die vorgestellte Handlung, nicht in der Nachahmung, sondern in der Natur selbst. Und eben so geht es mit jeder Täuschung zu.
Die Mittel aber, wodurch die Aufmerksamkeit, so wie die Täuschung es erfordert, gefesselt wird, sind vielerlei und liegen sowohl in der Materie als in der Form der Werke. Jede Art der ästhetischen Kraft, zu einem gewissen Grad erhoben, kann die Wirkung tun; und wir haben in den meisten Artikeln dieses Werks, darin wir die verschiedenen Eigenschaften eines vollkommenen Werks der Kunst besonders betrachtet haben, das Nöthige hierüber angemerkt. In den Werken, deren Stoff aus der sichtbaren Natur genommen ist, beruht die Täuschung größtenteils auf der vollkommenen Wahrheit der Nachahmung. Daher in den Gemälden die Wahrheit des Kolorits, der Zeichnung und der Perspektive, die Täuschung hervorbringen.
Hingegen wird sie auch durch jeden Fehler gegen die Wahrheit, plötzlich ausgelöscht. Jede wirkliche Unrichtigkeit, alles Widersprechende, Unwahrscheinliche, Gekünstelte, lässt uns sogleich bemerken, dass wir nicht Natur, sondern Kunst vor uns sehen. So bald wir durch irgend einen Umstand die Hand des Künstlers erblicken, wird die Aufmerksamkeit von dem Gegenstand, den wir allein bemerken sollten, abgezogen. So gar Schönheit und Vollkommenheit, in einem unwahrscheinlichen Grad, können der Täuschung hinderlich sein. Ein Kolorit, das schöner und glänzender, eine Regelmäßigkeit, die genauer ist als man sie in der Natur antrifft, sind der Täuschung schädlich. Das Verschönern der Natur, wovon man dem Künstler so viel vorschwatzt, kann also gefährlich werden; da hingegen gar oft überlegte Nachlässigkeiten selbst sehr viel zur Täuschung beitragen.
Dieses sieht man am deutlichsten in den Vorstellungen der Schauspiele. Die Schauspieler, die so sehr pünktlich sind, Gang, Stellung und Gebärden nach den Regeln der schönen Tanzkunst einzurichten; die in dem Vortrag jede Silbe nach den genauesten Regeln des Wohlklanges aussprechen, und dergleichen Pünktlichkeit mehr beobachten, werden uns nie täu
schen; weil sie nicht in der schicklichen Nachlässigkeit der Natur bleiben. Demnach wird überhaupt zur Täuschung nicht der höchste Grad der Vollkommenheit, sondern der höchste Grad der Natur und die höchste Leichtigkeit erfordert.
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1 Wer dieses etwas weiter ausgeführt zu sehen wünschet, wird auf die Zergliederung der Vernunft verwiesen die ich in den Memoires de l'Akademie Royale de Sciences et Belles-Lettres im Jahr 1758 gegeben habe.