Die dritte Art oder das Trauerspiel der Begebenheiten, kann auf eine ihm eigene Art nützlich werden. Der verehrungswürdige Marcus Aurelius sagt in seinen moralischen Gedanken, das Trauerspiel sei zuerst erfunden worden, um die Menschen zu erinnern, dass die Zufälle des Lebens unvermeidlich seien und sie zu lehren, dieselben mit Geduld zu ertragen1), dieses ist ein Nutzen, den man aus dem Trauerspiel ziehen kann. Man erhält ihn dadurch gewisser als durch die Geschichte, die uns alles von weitem zeigt, da das Schauspiel, weil wir die Sachen vor uns sehen, ungleich stärker auf uns wirkt. Unglücksfälle, die zu unseren Zeiten in entlegenen Ländern geschehen, rühren uns wenig, noch weniger die, welche durch Raum und Zeit zugleich entfernt sind. Man hat deswegen den wichtigsten Begebenheiten oft die Kraft der Dichtkunst leihen müssen, welche uns die Gegenstände näher für das Gesicht bringt. Dieses ist die Absicht der Epopöe, aber das Schauspiel bringt sie uns wirklich vor Augen und hat deswegen die größte Kraft.
Was demnach wichtige Unglücksfälle lehrreiches an sich haben, sowohl durch sich selbst als durch das verschiedene Betragen der Menschen, dabei kann dieses Trauerspiel uns auf die vollkommenste Art verschaffen. Die Ungewissheit und Unzuverlässigkeit aller menschlichen Veranstaltungen; der Heldenmut, womit einige Menschen das Unglück ertragen, die Schwachheit die andere dabei äußern; was Vernunft, Tugend und Religion auf der einen Seite, was Leidenschaften und bloße Sinnlichkeit auf der anderen Seite, bei ernsthaften Vorfällen in dem Betragen des Menschen wirken; was ein Mensch vor dem anderen, ein Stand vor dem anderen, eine Lebensart vor der anderen zuvor oder zurück hat, wird uns in diesem Trauerspiel - - nicht gelehrt, sondern unauslöschlich in die Empfindung eingegraben.
Aristoteles hat gesagt, dass das Trauerspiel durch Erweckung des Mitleidens und Schreckens, das Gemüt von diesen Leidenschaften reinige und seine Ausleger haben sich auf alle mögliche Seiten gewendet, um dieser Anmerkung einen begreiflichen Sinn zu geben. Die Art des Trauerspiels, wovon jetzt die Rede ist, macht uns mit Unglücksfällen bekannt und vertraut, erweckt Mitleiden und Schrecken, aber eben dadurch, dass es uns Erfahrung in solchen Sachen gibt, macht es uns stark sie zu ertragen. Wer viel in Gefahr gewesen, der wird standhaft und wer durch viel Fatalitäten gegangen ist, ist im Unglück weniger kleinmütig als andre.
Sollen aber diese Vorteile durch das Trauerspiel wirklich erhalten werden, so muss der Dichter die Leidenschaften mit Verstand behandeln, so wie die Griechen es unstreitig getan haben, deren Personen überhaupt gesetzter und männlicher sind als man sie auf der heutigen, besonders der deutschen Schaubühne sieht. Wer mit weichlichten, zaghaften, durch Unglücksfälle außer sich gesetzten Menschen lebt, der verliert alle Stärke der Seele und diese Wirkung könnte auch das Trauerspiel haben, dessen Personen zaghaft, weinerlich und jammernd sind. Man kann den Schmerz, die Furcht, die Bangigkeit, das Schrecken als ein Mann und auch als ein Kind fühlen. Auf die erste Art muss der tragische Dichter seine Personen fühlen lassen. Diejenigen irren sehr, welche in dem Trauerspiel den Zuschauer durch übertriebene Empfindlichkeit, durch Heulen und Klagen, zu rühren suchen, da die Großmut und Gelassenheit bei dem Unglück edler ist als die große Empfindlichkeit. Durch Heulen und Klagen wird nur der Pöbel gerührt und Plutarchus merkt sehr wohl an, dass diejenigen, welche die Cornelia, die Mutter der Grachen für wahnwitzig gehalten, weil sie den Mord ihrer Söhne mit Standhaftigkeit ertragen, selbst wahnwitzig und für das Große der Tugend unempfindlich gewesen. Wenn der Trauerspieldichter nicht bloß das Volk ergötzen, sondern ihm nützlich sein will, so sehe er auf große Tugenden und lasse seine Helden im Unglück edel und standhaft, nicht aber zaghaft sein.
Es kann sehr nützlich sein, wenn der Dichter untersucht, woher es doch kommt, dass die Neueren so gerne Unglücksfälle der Verliebten auf die tragische Bühne bringen, wovon man kaum wenige Spuren bei den Alten findet. Ohne Zweifel waren sie den Alten nicht wichtig, nicht ernsthaft, nicht männlich genug; ohne Zweifel urteilten sie von diesem Tragischen, dass es das Gemüt zu weichlich mache und daher lässt sich abnehmen, was für eine Art und was für ein Maß der Rührung sie zu erreichen gesucht haben.
Das Trauerspiel der Begebenheiten kann auf zweierlei Weise behandelt werden; entweder kann das volle Unglück, das den Inhalt der Handlung ausmacht, schon von Anfang vorhanden sein; oder es entsteht erst durch die Handlung. Im ersten Fall muss die Handlung so geführt werden, dass sie mit dem Ausgang den das Unglück hat, mit dem, was dadurch in dem Zustand der handelnden Personen hervorgebracht wird, ihr Ende erreicht; so wie in dem Oedipus zu Theben des Sophokles und im Hippolithus des Euripides, dem Ajax des Sophokles. Im anderen Fall entsteht das Unglück aus der Handlung, welche sich eigentlich damit endigt. Diese Art scheint von geringern Wert zu sein als die erstere.
Endlich haben wir noch die vierte Gattung zu betrachten; das Trauerspiel der Unternehmungen. Die Handlung desselben, besteht in einer wichtigen Unternehmung, wie z.B. die in der Elektra, in der Iphigenia in Tauris und tausend anderen. Es ist leicht die Wichtigkeit dieser Gattung einzusehen. Das Gemüt ist gleich von Anfang in einer großen Spannung und von Seite der handelnden Personen, werden die wichtigsten Gemütskräfte angestrengt. Bald ist die höchste Klugheit, bald großer Verstand, bald Verschlagenheit, bald ausnehmender Mut, bald Verläugnung seiner selbst, bald eine andere große Eigenschaft des Geistes oder des Herzens, oft mehrere zugleich, durch die ganze Handlung in beständiger Wirksamkeit. Dazu kommen denn die dagegen arbeitenden Kräfte, die zu überwinden sind, wenn der Ausgang dem Unternehmen gemäß oder die überwunden werden, wenn das Unternehmen fehl schlägt. Kurz, was in dem Bestreben der Menschen groß und wichtig sein kann, was Zufall und gute oder schlechte Aufführung bewirken oder veranlassen, kann in dieser Gattung vorgestellt werden.
Dieses Trauerspiel kann zur Schule jeder heroischen Tugend werden; zugleich aber kann es jede Gefahr, womit große Unternehmungen verbunden sind, jeden Zufall, der sie befördert oder vernichtet, jede befördernde oder hindernde Ursache großer Begebenheiten vor Augen legen. An der Wichtigkeit dieser Gattung kann niemand zweifeln; so wenig als an der Schwierigkeit, die sie hat. Denn keine Gattung erfordert mehr Verstand und Überlegung als diese, mehr Kenntnis der menschlichen Geschäfte und Kräfte.
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1) S. In dem XI Buch.