Tugend
Tugend. Echte Tugend beruht auf Grundsätzen, welche das Bewußtsein eines in allen Menschen lebenden Gefühls sind (s. Sittlichkeit). Mitleid und Gefälligkeit sind nur „adoptierte“ Tugenden, Schön u. Erh. 2. Abs (VIII 16). Tugend besteht „in den Gesinnungen“, „in der roctitudine actionum ex principiis internis“; sie bedeutet „Stärke in der Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung in Ansehung der moralischen Gesinnung“, Eine Vorles. üb. Ethik ed. Menzer S. 90 f.
Tugend ist „moralische Gesinnung im Kampfe“, die Gesinnung der Achtung vor der Pflicht (s. d.) um, dieser selbst willen, KpV 1. T. 1. B. 3. H. (II 109); vgl. 1. H. § 7 (II 42 f.). Tugend ist noch nicht „Heiligkeit“. Sie ist eine mächtige Kraft im Menschen, ibid. 2. T. (II 193 ff.). Sie ist eine Bedingung der Glückseligkeit (s. d.), ist „Würdigkeit, glücklich zu sein“; Tugend und Glückseligkeit zusammen machen das höchste Gut (s. d.) aus, ibid. 1. T. 2. B. 2. H. (II 142 ff.). Das Bewußtsein der Tugend wird nicht von Glückseligkeit (s. d.) als einem Genuß begleitet, wohl aber von „Selbstzufriedenheit“ als einem „negativen Wohlgefallen an seiner Existenz..., in welchem man nichts zu bedürfen sich bewußt ist“, ibid. 2. H. II (II 151 f.).
Tugend ist „die fest gegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen“. Das „Temperament“ der Tugend ist eine mutige, fröhliche Gemütsstimmung, ein „fröhliches Herz“ in Befolgung seiner Pflicht, Rel. 1 St. Anmerk. 2. Anm. (IV 22 f.); vgl. Rigorismus. Nach der reinen Vernunft beurteilt, gibt es nur eine Tugend. Der Mensch ist insofern nicht in einigen Stücken gut, in anderen böse, ebensowenig wie er indifferent ist. Nach „empirischem Maß. stabe“ freilich verhält es sich anders, ibid. 3. Anm. (IV 24); vgl. Adiaphora. Tugend, „der Legalität nach als ihrem empirischen Charakter (virtus phaenomenon)“ ist „der zur Fertigkeit gewordene feste Vorsatz in Befolgung seiner Pflicht“. Diese Tugend wird nach und nach erworben durch Änderung der Sitten („Reform“). „Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus noumenon) werde“, dazu bedarf es einer „Revolution“ in der Gesinnung (Denkungsart) des Menschen, ibid. 1. St. Allg. Anmerk. (IV 50 f.); vgl. Böse. „Der Tugendbegriff ist... aus der Seele des Menschen genommen. Er hat ihn schon ganz, obzwar unentwickelt, in sich ... In seiner Reinigkeit, in der Erweckung des Bewußtseins eines sonst von uns nie gemutmaßten Vermögens, über die größten Hindernisse in uns Meister werden zu können, in der Würde der Menschheit, die der Mensch an seiner eigenen Person und ihrer Bestimmung verehren muß, nach der er strebt, um sie zu erreichen, liegt etwas so Seelenerhebendes und zur Gottheit selbst, die nur durch ihre Heiligkeit und als Gesetzgeber für die Tugend anbetungswürdig ist, Hinleitendes, daß der Mensch, selbst wenn er noch weit davon entfernt ist, diesem Begriffe die Kraft des Einflusses auf seine Maximen zu geben, dennoch nicht ungern damit unterhalten wird, weil er sich selbst durch diese Idee schon in gewissem Grade veredelt fühlt...“, Rel. 4. St. 2. T. § 3 (IV 214 f.). Die Tugend besteht im „Mute“, uns der Angemessenheit zur Heiligkeit des Gesetzes immer mehr zu nähern, ibid. § 3, 4. Anm. (IV 216). Tugend ist „moralische Stärke“, die erworben und kultiviert werden muß, ibid. 4. St. 2. T. § 4, 2. Anm. (IV 223).
Das „Vermögen und der überlegte Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun“, ist Tapferkeit und in Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung in uns Tugend (virtus, fortitudo moralis), MST Einl. I (III 218 f.). Tugend ist nicht bloß Fertigkeit und Gewohnheit, denn sie kann nichts bloß Mechanisches sein, ibid. Einl. II (IV 223). Das logische Gegenteil der Tugend ist die Untugend (moralische Schwäche), das Widerspiel jener das Laster, ibid. Anmerk. (III 223). Tugend ist die „Stärke“ des sittlichen Vorsatzes, ibid. Einl. VII (III 231). „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht.“ „Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können, und da der Mensch es selbst ist, der seinen Maximen diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die Tugend nicht bloß ein Selbstzwang..., sondern auch ein Zwang nach einem Prinzip der inneren Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht nach dem formalen Gesetz derselben.“ Die Tugend ist „die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht“. Sie ist, wie alles Formale, „bloß eine und dieselbe“. „Aber in Ansehung des Zwecks der Handlungen, der zugleich Pflicht ist, d. i. desjenigen (des Materiale), was man sich zum Zwecke machen soll, kann es mehr Tugenden geben, und die Verbindlichkeit zu der Maxime desselben heißt Tugendpflicht, deren es also viele gibt.“ „Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“ Es ist hiernach Pflicht, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“, ibid. Einl. IX (III 236 f.). Der höchste, unbedingte Zweck der reinen praktischen Vernunft ist, „daß die Tugend ihr eigener Zweck und ... auch ihr eigener Lohn sei“. Sie überwiegt den Wert alles Nutzens und aller empirischen Zwecke und Vorteile, die sie zu ihrer Folge haben mag. Der Mensch ist zur Tugend verbunden, denn die Tugend bedarf als Stärke der Erwerbung durch Betrachtung und Übung, ibid. X (III 239 f.). „Der Unterschied der Tugend vom Laster kann nie in Graden der Befolgung gewisser Maximen, sondern muß allein in der spezifischen Qualität derselben (dem Verhältnis zum Gesetz) gesucht werden; mit anderen Worten, der belobte Grundsatz (des Aristoteles), die Tugend in dem Mittleren zwischen zwei Lastern zu setzen, ist falsch“, ibid. XIII (III 247). Tugend ist „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert“. Die Tugend als sittliche Stärke, als Tapferkeit ist „die größte und einzige wahre Kriegsehre des Menschen“. „In ihrem Besitz ist der Mensch allein frei, gesund, reich, ein König usw.“, ibid. XIV (III 248 f.); vgl. Fertigkeit. Die Tugend enthält für den Menschen ein bejahendes Gebot, alle Vermögen und Neigungen unter die Gewalt seiner Vernunft zu bringen, das Gebot der „Herrschaft über sich selbst“ nebst der Pflicht der „Apathie“, sich von seinen Gefühlen und Neigungen nicht beherrschen zu lassen, ibid. (III 251 f.). „Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an.“ „Das erste folgt daraus, weil sie, objektiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleichwohl aber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht ist.“ „Das zweite gründet sich, subjektiv, auf der mit Neigungen affizierten Natur des Menschen“, ibid. XVII Anmerk. (III 254). Es gibt nur eine Tugendverpflichtung, aber viele Tugendpflichten (s. d.).
Die Tugend ist nicht eine Fertigkeit (s. d.), denn da wäre sie „bloß Mechanism der Kraftanwendung“, sondern „die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll“, Anthr. 1. T. § 12 (IV 38). „Die Tugenden sind entweder Tugenden des Verdienstes oder bloß der Schuldigkeit oder der Unschuld. Zu den ersteren gehört Großmut (in Selbstüberwindung sowohl der Rache als der Gemächlichkeit und der Habsucht), Wohltätigkeit, Selbstbeherrschung; zu den zweiten Redlichkeit, Anständigkeit und Friedfertigkeit; zu den dritten endlich Ehrlichkeit, Sittsamkeit und Genügsamkeit“, Über Pädagogik (VIII 244). Vgl. Sittlichkeit, Moralisierung, Moralität.