Vernunft
Vernunft im weiteren Sinne ( = „das ganze obere Erkenntnisvermögen“) umfaßt den Verstand (s. d.) und die Vernunft im engeren Sinne (s. d.). Die Vernunft im weiteren Sinne ist das Vermögen apriorischer Erkenntnis, die Quelle des relativen und „reinen“ A priori (s. d.). Die Vernunft verwirklicht sich in den intellektuellen Funktionen des Denkens, in Begriffen und Urteilen, insbesondere — als „reine Vernunft“ — in den apriorischen Voraussetzungen, Grundlegungen der Erkenntnis. Aus bloßer Vernunft läßt sich keine objektive Erkenntis (s. d.) materialer Art gewinnen, alle Vernunfterkenntnis, auch die reine, ist auf mögliche Erfahrung bezogen, ist ohne Anschauung, die durch das Denken (s. d.) bestimmt werden muß, „leer“, gegenstandslos, hat insofern nur Formal-Logisches, nichts Reales zum Inhalt. Die reine Vernunft ist selbst schon eine Urbedingung der Erfahrung (ihrer Form nach), ihre Erzeugnisse gelten streng notwendig und allgemein, unabhängig von dem Erfahrungsstoffe, aber doch nur für mögliche Erfahrung und deren Gegenstände. Die Dinge an sich lassen sich durch reine Vernunft nicht — wie Kant früher selbst noch meinte — erkennen; sie (die „übersinnlichen“ Gegenstände) sind aber vom Standpunkt der praktischethischen Vernunft (in „praktisch-moralischer Absicht“) bestimmbar, d. h. die Begriffe des übersinnlichen (s. d.), die theoretisch bloße Möglichkeiten, Gedankendinge bedeuten, bekommen durch die praktische Vernunft und deren Postulate bestimmte Geltung für das sittliche Handeln. Die praktische Vernunft hat so vor der theoretischen den „Primat“ (s. d.). Die Kritik der reinen Vernunft (s. d.) macht dem metaphysischen Dogmatismus (s. d.) ein Ende, sichert aber die Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis und läßt Platz für einen „Vernunftglauben“ an das Übersinnliche, auch führt sie zu einem System der „Transzendentalphilosophie“ (s. d.), der kritischen Metaphysik (s. d.).
Vernunft ist „das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt“, KrV Einl. VII (I 67—Rc 83). Die Kritik will die Vernunft in ihrer „Selbsterkenntnis“ weiterbringen. Die Vernunft wird vor das Forum einer „höheren und richterlichen Vernunft“ gestellt. Sie hält sich selbst in Schranken, erkennt keinen anderen Richter als wieder die „allgemeine Menschenvernunft“, KrV tr. Meth. 1. H. 2. Abs. (I 618 ff.—Rc 764 ff.); vgl. Aufklärung, Polemik.
Es gehört zu einer Kritik der reinen praktischen Vernunft, daß schließlich „ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip“ müsse dargestellt werden können, „weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“, GMS Vorr. (III 8). — Vernunft im weiteren Sinne ist „das Vermögen der Erkenntnis a priori, d. i. die nicht empirisch ist“, Fortschr. d. Metaph. Vorr. (V 3, 86). „Der Umfang der theoretischen Erkenntnis der reinen Vernunft erstreckt sich nicht weiter als auf Gegenstände der Sinne.“ In diesem Satze, als einem „exponiblen Urteile“, sind zweiSätze enthalten: „1. daß die Vernunft, als Vermögen der Erkenntis der Dinge a priori, sich auf Gegenstände der Sinne erstrecke; 2. daß sie in ihrem theoretischen Gebrauch zwar wohl der Begriffe, aber nie einer theoretischen Erkenntnis desjenigen fähig, was kein Gegenstand der Sinne sein kann“, ibid. 1. Abt. Von d. Umfange... (V 3, 99).
„Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinktmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur anderen allmählich fortzuschreiten“, G. i. weltbürg. Abs. 2. Satz (VI 7). Vernunft ist „das Vermögen, nach der Autonomie, d. i. frei (Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß) zu urteilen“, Str. d. Fak. 1. Abs., I, Vom Verhältnisse ... 2. Abs. (V 4, 66 f.). Die Vernunft ist „das Vermögen, von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses letztere also nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen“, Anthr. 1. T. § 43 (VI 111). Vgl. A priori, Verstand, Kritik, Erkenntnis, Denken.