Praktische Vernunft
Vernunft, praktische. Die Vernunft ist praktisch (s. d.), sofern sie durch Begriffe das Wollen und Handeln bestimmt. Sie hat insofern eine eigene „Kausalität“ (s. d.), eine Wirksamkeit, die nicht bloß Erscheinung ist, sondern auch „intelligibel“, übersinnlich ist, sofern die Vernunft rein durch ihre Ideen (s. d.) Gründe (Prinzipien) für das Handeln hergibt. Diese „Kausalität der Vernunft“ ist eine ideal-zeitlose. Die praktisch-technische Vernunft (s. Technisch) liegt allem außersittlichen Handeln und Gestalten zugrunde; sie gibt relative Normen, Geschicklichkeits- oder Klugheitsregeln. Die praktisch-moralische Vernunft aber ist die Quelle der absoluten Normen, des absoluten Sollens (s. d.), ihre Zwecksetzung, ihr Imperativ (s. d.), ihre Grundsätze (s. d.) gelten schlechthin, unbedingt. Diese Vernunft geht auf unbedingte Einheit, Gesetzlichkeit und Allgemeingültigkeit des Wollens, auf Einstimmigkeit desselben, auf praktisch-systematische Einheit. Die Vernunft im Menschen ist das Prinzip der Freiheit (s. d.), der Autonomie (s. d.). sie konstituiert die reine „Menschheit“ und „Persönlichkeit“ im Menschen, die bei jedem aufs höchste zu werten und zu achten ist. Als Vernunftwesen gehören wir alle zur intelligiblen, moralischen Welt, versetzen wir uns (als „Noumenon“) in ein „Reich der Zwecke“ (s. d.), in eine ideale Ordnung, die eine Art übersinnlicher Natur bedeutet.
Theoretische („spekulative“) und praktische Vernunft sind „am Ende nur eine und dieselbe Vernunft..., die bloß in der Anwendung unterschieden werden muß“, GMS Vorr. (III 8). Die reine praktische Vernunft ist nicht eingeschränkt auf die besondere „Natur der menschlichen Vernunft“, sondern ist eine Quelle und ein Gebiet von allgemeingültigen Normen, die aus dem „allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt“ abzuleiten sind, ibid. 2. Abs. (III 33). „Wie nun aber reine Vernunft ohne andere Triebfedern, die irgend woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze ... für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken“ könne, das läßt sich nicht erklären, ibid. 3. Abs. Von d. äußersten Grenze ... (III 92); vgl. Achtung. Die praktische Vernunft enthält betreffs des Begehrungsvermögens „konstitutive Prinzipien a priori“, KU Vorr. (II 2). Sie ist „a priori gesetzgebend für die Freiheit und ihre eigene Kausalität, als das Übersinnliche in dem Subjekte, zu einem unbedingt-praktischen Erkenntnis“, KU Einl. IX (II 33); vgl. Anh. Allg. Anmerk. z. Teleologie (II 349). Moralisch können nur Gesetze sein, welche die Vernunft „ursprünglich selbst gibt“, ibid. Allg. Anmerk. z. Teleologie (II 361). Die Vernunft strebt, uns von der Sinnlichkeit und Natur innerlich unabhängig zu machen, ibid. § 29 Allg. Anmerk. (II 116). Sie schreibt den Weltwesen den „Endzweck“ (s. d.) vor, ibid. § 87 (II 323); vgl. § 88 (II 325 ff.).
Ist reine Vernunft wirklich praktisch (s. d.), „so beweist sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat“, KpV Vorr. (II 3). Sie hat ihr eigenes Prinzip a priori, ibid. (II 14); ist a priori „gesetzgebend“, wie dies die „Kritik der praktischen Vernunft“ (s. d.) darlegt, KpVEinl. (II 18 ff.). Da die reine Vernunft einen „praktisch, d. i. zur Willensbestimmung hinreichenden“ Grund in sich enthält, gibt es praktische Gesetze (s. d.). Reine Vernunft muß für sich praktisch sein, d. h. „ohne Voraussetzung irgendeines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen, als der Materie des Begehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung der Prinzipien ist, durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen können“. Nur so ist die reine Vernunft „gesetzgebend“, KpV 1. T. 1. B. 1. H. § 3 Anmerk. I (II 31); vgl. § 6 Anmerk. (II 38). Das „Grundgesetz“ der reinen praktischen Vernunft ist der kategorische Imperativ (s. d.). Reine Vernunft, ist „für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen“, ibid. § 7 Folgerung (II 41). Die praktische Regel ist ein „kategorisch praktischer Satz a priori“. Der durch die bloße Form des Gesetzes bestimmte Wille ist der reine Wille (s. d.). Das Bewußtsein des praktischen Grundgesetzes ist ein „Faktum der Vernunft“, ibid. § 7 Anmerk. (II 40 f.). Die eigene Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft ist Freiheit (s. d.) im positiven Sinne Autonomie (s. d.). Reine Vernunft kann also praktisch sein, d. h. „für sich, unabhängig von allem Empirischen“ den Willen bestimmen. Der Wille ist sich hier „als Wesen an sich selbst, seines in einer intelligiblen Ordnung der Dinge bestimmbaren Daseins bewußt“ ibid. 1. H., I (II 55 f.). Die übersinnliche Natur (s. d.) ist nichts anderes als „eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft“. Das moralische Gesetz ist „das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandesweit“, ibid. (II 57). Das moralische Gesetz ist „ein Gesetz der Kausalität durch Freiheit und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur“, ibid. (II 62 f.). Reiner Wille und reine praktische Vernunft sind identisch, ibid. 1. H. II (II 72); um die Form des reinen Willens handelt es sich im Sittlichen, ibid, 2. H. (II 81 ff.); vgl. 3. H. Kritische Beleuchtung... (II 115 ff.). Die praktische Vernunft hat den „Primat“ (s. d.) vor der theoretischen, ibid. 2. B. 2. H. III (II 155); vgl. Postulate. Der positive Begriff der Freiheit ist „das Vermögen der reinen Vernunft, für sich praktisch zu sein“, MS Einl. I (II I14). Zur „moralisch-praktischen Vernunft“ vgl. MSR Beschluß (III 185) u. ö.; zur „rechtlich-praktischen Vernunft“ MSR § 7 (III 63) u. ö; zur „rechtlich-gesetzgebenden Vernunft“ MSR § 39 (III 123); zur „technisch-praktischen Vernunft“, MST Einl. V A (III 227); vgl. Technisch-praktisch. — Unterscheidung von praktischer, aber nur anderen Triebfedern dienstbarer Vernunft und der allein für sich selbst, d. i. unbedingt gesetzgebenden Vernunft, Rel. 1. St. I (IV 28). Vgl. Praktisch, Autonomie, Freiheit, Sollen, Imperativ, Kritik der praktischen Vernunft, Gut, Ethik, Sittlichkeit, Wille, Glaube, Postulate.