Verstand
Verstand. Der Verstand gehört zu den oberen Erkenntnisvermögen (s. d.). Er hat aber vielleicht mit der Sinnlichkeit (s. d.) eine gemeinsame Wurzel. Er ist eine Fähigkeit zur „Spontaneität“ (s. d.), zur geistigen Selbsttätigkeit, die freilich der Erweckung, der Empfindung und Anschauung (s. d.) bedarf. Der Verstand ist das Vermögen der Erkenntnis, d. h. begrifflichen Bestimmung von Inhalten in Urteilen, in denen alles Denken (s. d.) besteht. Er ist das Vermögen der Regeln, indem er die Tendenz hat, alles Gegebene einheitlich zu verknüpfen, unter Gesetze (s. d.) zu bringen. Als Quelle apriorischer Begriffe (Kategorien) und Grundsätze (s. d.) ist er ein „reiner Verstand“, dessen Kern die transzendentale Apperzeption (s. d.) ist, durch welche alle Daten zu einer möglichen Erfahrung in objektiver Einheit (s. d.) synthetisch verbunden werden müssen. So erst gibt es Erfahrung (s. d.), deren Form also im reinen Verstande selbst gegründet ist. Nur im Verein mit der Sinnlichkeit (Anschauung) gibt der Verstand Erkenntnis (s. d.), und die apriorischen Erzeugnisse des reinen Verstandes gelten nur für Gegenstände möglicher Erfahrung (Erscheinungen), nicht — wie Kant selbst früher meinte — für Dinge an sich. Der reine Verstand stellt die (obersten) Gesetze auf, durch die erst „Natur“ (s. d.) als einheitlicher Zusammenhang von Erscheiaungen möglich ist.
Ein Trieb besteht in uns, „vermöge dessen wir so stark und so allgemein am Urteile anderer hängen“, ein geheimer Zug, „dasjenige, was man für sich selbst als gut oder wahr erkennt, mit dem Urteil anderer zu vergleichen und beide einstimmig zu machen; imgleichen eine jede menschliche Seele auf dem Erkenntniswege gleichsam anzuhalten, wenn sie einen anderen Fußsteig zu gehen scheint, als den wir eingeschlagen haben; welches alles vielleicht eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urteile vom allgemeinen menschlichen Verstande ist und ein Mittel wird, dem ganzen denkenden Wesen eine Art von Vernunfteinheit zu verschaffen“, Träume 1. T. 2. H. (V 2, 23). — Es zeigt sich, „daß Verstand und Vernunft, d. i. das Vermögen deutlich zu erkennen, und dasjenige Vernunftschlüsse zu machen, keine verschiedenen Grundfähigkeiten seien. Beide bestehen im Vermögen zu urteilen; wenn man aber mittelbar urteilt, so schließt man“, F. Spitzf. § 6 (V 1, 68).
Intellektuell ist die Erkenntnis, sofern sie den Gesetzen des Verstandes unterworfen ist. Im Unterschiede von den sinnlichen Vorstellungen geben die Verstandesbegriffe (s. Kategorie) die Dinge so, „wie sie sind“, Mund. sens. §§ 3 f. (V 2, 96 f.). Der Gebrauch des Verstandes oder „oberen Seelenvermögens“ ist aber ein doppelter. „Durch den einen werden die Begriffe von den Dingen oder von den Beziehungen selbst gegeben“; dies ist der „reale Gebrauch“. „Durch den anderen werden die irgendwoher gegebenen einander nur untergeordnet, nämlich die unteren den oberen (den allgemeinen Merkmalen) und unter sich nach dem Satz des Widerspruchs verglichen; dieser Gebrauch heißt der ’logische’.“ „Der logische Gebrauch des Verstandes ist allen Wissenschaften gemeinsam; nicht so der reale. Denn jede irgendwie gegebene Erkenntnis wird betrachtet entweder als unter einem mehreren Dingen gemeinsamen oder einem ihm entgegengesetzten Merkmale befaßt; und zwar entweder unmittelbar und zunächst, wie es bei den Urteilen behufs deutlicher Erkenntnis geschieht, oder mittelbar, wie bei den Vernunftschlüssen behufs einer adäquaten Erkenntnis.“ „Wenn also sinnliche Erkenntnisse gegeben sind, so werden durch den logischen Gebrauch des Verstandes sinnliche Erkenntnisse anderen sinnlichen als den gemeinsamen Begriffen, und Erscheinungen den allgemeineren Gesetzen der Erscheinungen untergeordnet.“ Von der höchsten Wichtigkeit aber ist es hier, sich zu merken, „daß die Erkenntnisse dabei immer als sinnliche gelten müssen, wie stark auch immer bei ihnen der logische Gebrauch des Verstandes gewesen ist“. Aus der mittelst des Verstandes erfolgenden Vergleichung mehrerer Erscheinungen geht die „Erfahrung“ hervor, ibid. § 5 (V 2, 97 ff.). Was aber „die Verstandesbegriffe im strengen Sinne anlangt, in denen der Gebrauch des Verstandes ein realer ist“, so werden solche Begriffe, sowohl von Gegenständen als von Beziehungen, „durch die Natur des Verstandes selbst gegeben; sie sind weder von irgendwelchem Gebrauch der Sinne abstrahiert, noch enthalten sie irgendeine Form der sinnlichen Erkenntnis als solcher“. Der Verstandesbegriff ist ein „abstrahierender“ Begriff, eine „reine Idee“; er abstrahiert von allem Sinnlichen, ibid. § 6 (V 2, 99). Mit Unrecht wird (von den Wolfianern) die sinnliche Erkenntnis als eine „verworrene“ der „deutlichen“ Verstandeserkenntnis gegenübergestellt. „Denn das sind nur logische Unterschiede, welche das Gegebene, das aller logischen Vergleichung zugrunde liegt, gar nicht berühren.“ „Die sinnlichen Begriffe können sehr deutlich und die des Verstandes sehr verworren sein“ (Geometrie — Metaphysik), ibid. § 7 (V 2, 99 f.). Die obersten Prinzipien des „reinen Verstandesgebrauchs“ enthält die Metaphysik, zu welcher als „Propädeutik“ die Wissenschaft dient, „welche den Unterschied der sinnlichen Erkenntnis von der des Verstandes darlegt“, ibid. § 8 (V 2, 100). Die Verstandesbegriffe (die „in der Natur des reinen Verstandes selbst“ zu suchen sind), sind aber nicht angeborene Begriffe, sondern „aus den dem Geiste eingepflanzten Gesetzen abstrahiert (indem man bei Gelegenheit der Erfahrung auf seine Tätigkeit achtet), folglich erworben“ (ibid.). Der Zweck der Verstandesbegriffe ist ein doppelter: erstens dienen sie der „Aufdeckung von Scheinbeweisen“, zweitens dienen sie der Erfassung einer „Art Ideal“, das in der „Vollkommenheit der Gedankendinge“ besteht, ibid. § 9 (V 2, 101). Von den Verstandesbegriffen gibt es für den Menschen „keine Anschauung, sondern nur symbolische Erkenntnis“, ibid. § 10 (V 2, 102).
Der Verstand ist „das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses“. Er ist „das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken“. Er „vermag nichts anzuschauen“, nur mit der Sinnlichkeit vereinigt, durch Anschauung (s. d.) fundiert, gibt er Erkenntnis, KrV tr. Log. Einl. I (I 107—Rc 126). Negativ erklärt, ist der Verstand ein „nichtsinnliches Erkenntnisvermögen“. Positiv ist er (wenigstens der menschliche Verstand) „eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv“. Alle Handlungen des Verstandes vollziehen sich als Urteile (s. d.), und so ist er „ein Vermögen, zu urteilen“. Denn Begriffe sind „Prädikate möglicher Urteile“. Die Funktionen des Verstandes, durch welche er verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen ordnet, kann man insgesamt finden, wenn man die „Funktionen der Einheit in den Urteilen“ vollständig darstellt, ibid. tr. Anal. 1. B. 1. H. 1. Abs. (I 120 f.—Rc 139 f.). Verstand ist, allgemein genommen, „das Vermögen der Erkenntnisse“. „Diese bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist. Nun erfordert aber alle Vereinigung der Vorstellungen Einheit des Bewußtseins in der Synthesis derselben. Folglich ist die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich, daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht.“ Das „oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs“ ist somit der „Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption“ (s. d.), ibid. § 17 (I 154 f. —Rc 181 f.). „Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen“, ibid. § 16 (I 153—Rc 179). „Derjenige Verstand, durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde, ein Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, würde einen besonderen Aktus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Selbstbewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf“. ibid. § 17 (I 155 f.—Rc 183 f.).
Kein anderes Erkenntnisvermögen als der Verstand kann „konstitutive Erkenntnisprinzipien a priori“ an die Hand geben. Die Kritik „läßt nichts übrig, als was der Verstand a priori als Gesetz für die Natur als den Inbegriff von Erscheinungen (deren Form ebensowohl a priori gegeben ist) vorschreibt; verweist aber alle andere reine Begriffe unter die Ideen“. „Es war also eigentlich der Verstand, der sein eigenes Gebiet, und zwar im Erkenntnisvermögen, hat, sofern er konstitutive Erkenntnisprinzipien a priori enthält, welcher durch die im allgemeinen so benannte Kritik der reinen Vernunft gegen alle übrige Kompetenten in sicheren, aber einigen Besitz gesetzt werden sollte“, KU Vorr. (II 1 f.). Auf die Frage: wie der Verstand den Stoff der Anschauung bearbeite, lautet die Antwort: „Die Kritik bewies in der transzendentalen Logik: daß dieses durch Subsumtion der sinnlichen (reinen oder empirischen) Anschauungen unter die Kategorien geschehe, welche Begriffe von Dingen überhaupt gänzlich im reinen Verstande a priori gegründet sein müssen.“ Einen von den Kategorien freien, das Übersinnliche unmittelbar erfassenden „anschauenden Verstand“ kennen wir nicht, Üb. e. Entdeck. 1. Abs. C (V 3, 36 f.). Der Verstand ist kein „Vermögen deutlicher Erkenntnis“, sondern das „Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe“ und damit zugleich ein „transzendentales Vermögen ursprünglich aus ihm allein entspringen der Begriffe (der Kategorien)“, ibid. C, 4. Anm. (V 3, 38). Der Verstand ist ein „Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe“. Der „diskursive Verstand“ muß „viele Arbeit zu der Auflösung und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach Prinzipien verwenden und viele Stufen mühsam besteigen, um in der Erkenntnis Fortschritte zu tun, statt dessen eine intellektuelle Anschauung den Gegenstand unmittelbar und auf einmal fassen und darstellen würde“, V. e. vorn. Ton (V 4, 3). Unser Verstand ist „nicht ein Anschauungs-, nur ein diskursives oder Denkungsvermögen“, ibid. (V 4, 5). Er ist „ein Vermögen zu denken, d. i. ein diskursives Vorstellungsvermögen oder ein solches, was durch ein Merkmal, das mehreren Dingen gemein ist (von deren Unterschiede ich also im Denken abstrahieren muß), mithin nicht ohne Beschränkung des Subjekts möglich ist“. „Folglich ist ein göttlicher Verstand nicht für ein Denkungsvermögen anzunehmen“, ibid. 5. Anm. (V 4, 16).
Verstand im weitesten Sinne ist „das Vermögen der Erkenntnis überhaupt“. Er enthält „das Auffassungsvermögen (attentio) gegebener Vorstellungen, um Anschauung, das Absonderungsvermögen dessen, was mehreren gemein ist (abstractio), um Begriff, und das Überlegungsvermögen (reflexio), um Erkenntnis des Gegenstandes hervorzubringen“, Anthr. 1. T. § 6 (IV 26 f.). „Verstand, als das Vermögen zu denken, durch Begriffe sich etwas vorzustellen, wird auch das obere Erkenntnisvermögen (zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, als dem unteren) genannt, darum weil das Vermögen der Anschauungen (reiner oder empirischer) nur das Einzelne in Gegenständen, dagegen das der Begriffe das Allgemeine der Vorstellungen derselben, die Regel, enthält, der das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauungen untergeordnet werden muß, um Einheit zur Erkenntnis des Objekts hervorzubringen“, ibid. § 40 (IV 106 f.). Ein „richtiger Verstand“ ist das Vermögen zu Begriffen, die den Gegenständen angemessen sind. Der richtige Verstand, der „für Begriffe der gemeinen Erkenntnis zulangt“, ist der „gesunde“ Verstand, ibid. § 41 (IV 107 f.). Verstand ist „ein Vorstellungsvermögen mit Bewußtsein der Handlung, wodurch die Vorstellungen auf einen gegebenen Gegenstand bezogen und dieses Verhältnis gedacht wird. — Wir verstehen aber nichts recht als das, was wir zugleich machen können, wenn uns der Stoff dazu gegeben würde, und so ist der Verstand ein Vermögen der Spontaneität in unserem Erkenntnis, ein oberes Erkenntnisvermögen, weil es die Vorstellungen gewissen Regeln a priori unterwirft und selbst die Erfahrung möglich macht“, Anthr. Ergänz, aus der Handschrift (IV 293). Der Verstand ist „als der Quell und das Vermögen anzusehen, Regeln überhaupt zu denken“. Er ist „das Vermögen zu denken, d. h. die Vorstellungen der Sinne unter Regeln zu bringen“. „Er ist daher begierig, Regeln zu suchen, und befriedigt, wenn er sie gefunden hat“, Log. Einl. I (IV 12 f.); vgl. Logik, Regel. Der Verstand ist das „Vermögen der Begriffe“, ein „Vermögen der Spontaneität“: Er „disponiert“ über den Stoff der Sinnlichkeit und bringt denselben unter Regeln oder Begriffe, ibid. Einl. V (IV 39 f.).
„Der Verstand ist das Vermögen der Begriffe, der Urteile, der Regeln.“ Er ist „das Vermögen, zu reflektieren“. „Verstand a priori ist Vernunft ... Verstand als ein Vermögen der Anwendungskraft a posteriori: Urteilskraft“, N 409. Der Verstand ist „das Vermögen zu urteilen, welches ebendasselbe ist mit dem Vermögen der Begriffe überhaupt“, N 407. Der Verstand „gibt den Eindrücken das Logische, d. i. das Gemeingültige, d. i. die Funktion des Prädikats zu einem möglichen Urteile“, N 413. Verstand ist „das Vermögen der Verknüpfung der Vorstellungen mit Bewußtsein“, Altpreuß. Mth. XX 107. Vgl. Verstand (reiner), Sinnlichkeit, Spontaneität, Denken, Begriff, Urteil.