Reiner Verstand
Verstand, reiner: der von der Sinnlichkeit abgesonderte Verstand, der Verstand als Quelle apriorischer Begriffe und Grundsätze. — „Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft der reine Verstand.“ Im reinen Verstande sind „reine Erkenntnisse a priori, welche die notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung aller möglichen Erscheinungen, enthalten“, nämlich die Kategorien (s. d.). Der reine Verstand bezieht sich auf „alle Gegenstände der Sinne“, aber nur „vermittelst der Anschauung und der Synthesis derselben durch Einbildungskraft“. Vermittelst der Kategorien ist der reine Verstand auf diese Weise „ein formales und synthetisches Prinzipium aller Erfahrungen“, so daß die Erscheinungen eine „notwendige Beziehung auf den Verstand“ haben, KrV 1. A. tr. Anal. 1. B. 2. H. 3. Abs. (I 721 f.—Rc 204 f.). Der Verstand ist nicht bloß eine „Spontaneität“ durch ein „Vermögen zu denken“ oder ein „Vermögen der Begriffe, oder auch der Urteile“, sondern das „Vermögen der Regeln“. „Sinnlichkeit gibt uns Formen (der Anschauung), der Verstand aber Regeln. Dieser ist jederzeit geschäftig, die Erscheinungen in der Absicht durchzuspähen, um an ihnen irgendeine Regel aufzufinden.“ Die Regeln, sofern sie objektiv sind, heißen Gesetze; und da die höchsten Gesetze apriori „aus dem Verstande selbst herkommen“ und Erfahrung möglich machen, so ist der Verstand „nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen“, sondern er ist selbst „die Gesetzgebung für die Natur“. Ohne Verstand würde es nicht Natur, d. h. „synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln“ geben. Der Verstand ist selbst „der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur“, wenn auch empirische Gesetze nicht aus dem reinen Verstande allein entspringen, ibid. (I 726 ff.—Rc 216 ff.).
Der „reine Verstand“ „sondert sich nicht allein von allem Empirischen, sondern sogar von aller Sinnlichkeit völlig aus“. Er ist also „eine für sich selbst beständige, sich selbst genügsame und durch keine äußerlich hinzukommenden Zusätze zu vermehrende Einheit“. Der Inbegriff seiner (reinen) Erkenntnisse (Begriffe und Grundsätze a priori) bildet daher ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes, ein bestimmtes System, KrV tr. Anal, am Anfang (I 117—Rc 137). Der Verstand ist nur um der Kategorien willen ein „reiner“ Verstand, „indem er nur durch sie etwas bei dem Mannigfaltigen der Anschauung verstehen, d. i. ein Objekt derselben denken kann“, ibid. § 10 (I 130—Rc 150). Es zeigt sich, „daß alles, was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu borgen, das habe er dennoch zu keinem anderen Behuf, als lediglich zum Erfahrungsgebrauch“. Die Grundsätze des reinen Verstandes enthalten „gleichsam nur das reine Schema zur möglichen Erfahrung“. Der Verstand kann von allen seinen Begriffen und Grundsätzen a priori nie einen „transzendentalen“, immer nur einen „empirischen“ Gebrauch (s. d.) machen, KrV tr. Anal. 2. B. 3. H. (I 271 f.—Rc 333 f.). Der Verstand kann a priori nie mehr leisten, als „die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren“. Er kann „die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb deren uns allein Gegenstände gegeben werden“, nie überschreiten. Seine Grundsätze (s. d.) sind bloß „Prinzipien der Exposition der Erscheinungen“, ibid. (I 278— Rc 341).
„Abgesondert von den Sinnen ist der reine, in Verbindung mit denselben der angewandte Verstand Der letztere ist das Vermögen der Erfahrung. Reiner Verstand ist das Vermögen der Erkenntnis a priori“, Altpreuß. Mth. XX 107. Vgl. Verstand, Sinnlichkeit, Denken, Begriff, Urteil, A priori, Schematismus, Synthese.