Vernunft (im engeren Sinn)
Vernunft (im engeren Sinn). Die Vernunft im Unterschiede vom Verstand (s. d.) ist die „oberste Erkenntniskraft“, sie bringt das durch den Verstand schon Bearbeitete „unter die höchste Einheit des Denkens“. Es gibt von ihr 1. einen „bloß formalen, d. i. logischen Gebrauch, da die Vernunft von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert“, und 2. einen „realen“ Gebrauch, „da sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält, die sie weder von den Sinnen noch vom Verstande entlehnt“ („logisches“ und „transzendentales“ Vermögen der Vernunft). Die Vernunft ist „das Vermögen der Prinzipien“. Sie ist „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“. „Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung oder auf irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann“, KrV tr, Dial. Einl. II A (I 318 ff.—Rc 385 ff.). „Mannigfaltigkeit der Regeln und Einheit der Prinzipien“ ist eine Forderung der Vernunft, „um den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang zu bringen“. Aber ein solcher Grundsatz schreibt den Objekten kein Gesetz vor, sondern ist bloß „ein subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrate unseres Verstandes, durch Vergleichung seiner Begriffe den allgemeinen Gebrauch derselben auf die kleinstmögliche Zahl derselben zu bringen“. Die Frage ist: „ob Vernunft an sich, d. i. die reine Vernunft a priori, synthetische Grundsätze und Regeln enthalte, und worin diese Prinzipien bestehen mögen?“ Es zeigt sich als der eigentümliche Grundsatz der Vernunft in logischem Gebrauche die Forderung, „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird“. Diese logische Maxime kann nur dadurch ein „Principium der reinen Vernunft“ werden, daß man annimmt: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten).“ Ein solcher Grundsatz ist „synthetisch“, und es müssen aus ihm verschiedene synthetische Sätze entspringen, von denen der Verstand nichts weiß. Das Unbedingte (s. d.) muß „Stoff zu manchen synthetischen Sätzen a priori“ geben. Diese Sätze sind „transzendent“, d. h. es ist kein ihnen adäquater empirischer Gebrauch von ihnen zu machen. Die transzendentale Dialektik (s. d.) untersucht, ob der Satz des Unbedingten objektiv gültig ist oder nicht, ob er am Ende nur eine logische Vorschrift bedeuten kann, „sich im Aufsteigen zu immer höheren Bedingungen der Vollständigkeit derselben zu nähern und dadurch die höchste und mögliche Vernunfteinheit in unsere Erkenntnis zu bringen“, ibid. Einl. II C (I 323 ff.—Rc 390). Der „transzendentale Gebrauch der reinen Vernunft, ihre Prinzipien und Ideen“ sind zu untersuchen, um den „Einfluß der reinen Vernunft und den Wert derselben gehörig bestimmen und schätzen zu können“, ibid. tr. Dial. 1. B. 1. Abs. (I 333—Rc 400 f.). Die Vernunft behält sich allein „die absolute Totalität im Gebrauche der Verstandesbegriffe“ vor, zielt auf höchste Einheit (s. d.) dieser, auf „Vernunfteinheit“. Sie schreibt dem Verstande die „Richtung“ auf diese Einheit vor, die darauf hinausgeht, „alle Verstandeshandlungen in Ansehung eines jeden Gegenstandes in ein absolutes Ganzes zusammenzufassen“, ibid. 2. Abs. (I 338—Rc 406).
Als logische Erkenntnisform ist die Vernunft „das Vermögen zu schließen, d. i. mittelbar (durch die Subsumtion der Bedingung eines möglichen Urteils unter die Bedingung eines gegebenen) zu urteilen“. Sie gelangt „durch Verstandeshandlungen, welche eine Reihe von Bedingungen (Prämissen) ausmachen“, zu einer Erkenntnis (Konklusion). Durch eine Reihe von Schlüssen geht sie entweder auf der Seite der Bedingungen oder des Bedingten („prosyllogistisch“ oder „episyllogistisch“) in unbestimmte Weiten fort. Die Forderung der Vernunft ist dabei, daß die ganze Reihe unbedingt wahr sein muß, wenn das Bedingte als wahr gelten soll, KrV tr. Dial. 1. B. 2. Abs. (1340 f.—Rc 409 f.). Die Vernunft „bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, schafft also keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur und gibt ihnen diejenige Einheit, welche sie in ihrer größtmöglichen Ausbreitung haben können, d. i. in Beziehung auf die Totalität der Reihen“. Die Vernunft „hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande“, und wie dieser „das Mannigfaltige im Objekt“ durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits „das Mannigfaltige der Begriffe“ durch Ideen (s. d.), indem sie eine „gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt, welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind“, ibid. tr. Dial. Anh. V. d. regulativen Gebrauch... (I 549—Rc 691). Die Vernunft ist ein Vermögen, „das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten“. Ist das Allgemeine schon an sich gewiß und gegeben, und bedarf es nur der Urteilskraft zur Subsumtion, so ist dies der „apodiktische Gebrauch der Vernunft“. Wird das Allgemeine nur problematisch angenommen (als Idee), und ist das Besondere gewiß, die Allgemeinheit der Regel zu dieser Folge aber noch ein Problem, „so werden mehrere besondere Fälle, die insgesamt gewiß sind, an der Regel versucht, ob sie daraus fließen, und in diesem Falle, wenn es den Anschein hat, daß alle anzugebenden besonderen Fälle daraus abfolgen, wird auf die Allgemeinheit der Regel, aus dieser aber nachher auf alle Fälle, die auch an sich nicht gegeben sind, geschlossen“. Dies ist der „hypothetische Gebrauch“ der Vernunft; er ist eigentlich nicht „konstitutiv“, d. h. streng die Wahrheit der allgemeinen Regel begründend, sondern nur „regulativ“, indem er durch die Einheit der Erkenntnisse diese Regel der Allgemeinheit nähert. „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln“, ibid. (I 551 f.—Rc 693 f.). Die Vernunft sucht das „Systematische“ der Erkenntnis zu erzeugen, d. h. „Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“, ibid. (I 550—Rc 692). Sie ist eigentlich „mit nichts als mit sich selbst beschäftigt“, weil ihr nur die Verstandeserkenntnisse zur Einheit des Vernunftbegriffs, d. h. des „Zusammenhangs in einem Prinzip“, zur Einheit des „Systems“ gegeben werden, ibid. Vernunft d. Endabsicht (I 575 f.—Rc 721 f.). Die Kritik zeigt, daß alle Vernunft niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinauskommen kann. Ihre Bestimmung ist es, der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit „bis in ihr Innerstes nachzugehen, niemals aber ihre Grenze zu überfliegen“, ibid. (I 590—Rc 737).
Die Vernunft ist ein nichtsinnliches, von allen „empirisch-bedingten Kräften“ unterschiedenes Vermögen, da sie „ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt“. Die Vernunft hat eine eigene (intelligible) Kausalität aus Freiheit (s. d.), die sich im „Sollen“ (s. d.) betätigt. Die reine Vernunft als bloß „intelligibles Vermögen“ ist der Zeitform und den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen. Es findet in ihr keine Zeitfolge statt, ihre Kausalität entspringt nicht in der Zeit, KrV. tr. Dial. 2. B. 2. H. 9. Abs. III Erläuterung der kosmolog. Idee ... (I 479 ff.—Rc 614 ff.). Die Vernunft ist die „beharrliche Bedingung“ aller willkürlichen Handlungen, ibid. (I 483—Rc 619). Sie ist „allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit“. Sie ist „bestimmend, aber nicht bestimmbar“, ibid. (I 486 —Rc 621); vgl. Zurechnung.
So wie der Verstand die Quelle der Kategorien ist, so enthält die Vernunft in sich „den Grund zu Ideen“, welche „in der Natur der Vernunft“ gelegen sind. Der „transzendente“ (s. d.) Gebrauch der Vernunft führt zu Schein und Widersprüchen, Prol. § 40 (III 92 f.). Dieser dialektische Schein (s. d.) kann nur durch „Selbsterkenntnis“ der Vernunft, durch Kritik an sich selbst vermieden werden, ibid. §§ 41 f. (III 93 f.). — Die Vernunft ist ein Vermögen, „welches nicht bloß mit seinen subjektiv bestimmenden Gründen, welche die Naturursachen seiner Handlungen sind, in Verknüpfung steht und sofern das Vermögen eines Wesens ist, das selbst zu den Erscheinungen gehört, sondern auch auf objektive Gründe, die bloß Ideen sind, bezogen wird, sofern sie dieses Vermögen bestimmen können“. Als Träger solcher Vernunft ist der Mensch (s. d.) kein Sinnenwesen. Diese „Kausalität der Vernunft“ ist Freiheit, Bestimmung bloß durch Ideen, zeitloser Einfluß von Gründen, Prinzipien der Vernunft, ibid. § 53 (III 113 f.). Die Vernunft findet in der Erfahrung „keine Befriedigung“ (s. Grenze), sie strebt nach dem Unbedingten, Übersinnlichen, ibid. § 57 (III 123 ff.). Der Mensch findet in sich „ein Vermögen, dadurch er sich von allen anderen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine Selbsttätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben: daß, obgleich dieser auch Selbsttätigkeit ist und nicht, wie der Sinn, bloß Vorstellungen enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen affiziert (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Tätigkeit keine anderen Begriffe hervorbringen kann als die, so bloß dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln zu bringen und sie dadurch in einem Bewußtsein zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch der Sinnlichkeit er gar nichts denken würde; dahingegen die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und ihr vornehmstes Geschäft darin beweist, Sinnenwelt und Verstandeswelt voneinander zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstande selbst seine Schranken vorzuzeichnen“, GMS 3. Abs. Von d. Interessen (III 81). Das vernünftige Wesen als solches muß sich als zur Verstandes- oder intelligiblen Welt gehörig ansehen und die Kausalität seines Willens unter der Idee der Freiheit denken; es hat insofern Autonomie und ist als Glied eines (idealen) „Reichs der Zwecke“, in welchem es gesetzgebend und zugleich dem eigenen Gesetz unterworfen ist, zu betrachten, ibid. (III 82 ff.). Die Vernunft, und zwar „die reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft“, gibt das sittliche Gesetz; sie hat insofern eine eigene Kausalität, d. h. einen Willen, ibid. Von d. äußersten Grenze... (III 88).
Die Vernunft ist die Quelle der Ideen und kommt als solche auch im Gefühle des Erhabenen (s. d.) zur Geltung, KU § 26 (II 100 f.); vgl. § 29 Allg. Anmerk. (II 116). Sie ist „das Vermögen intellektueller Ideen“, ibid. § 49 (II 169); ein „übersinnliches Vermögen“ in uns, ibid. § 25 (II 94). Sie geht auf „absolute Totalität“ (ibid.), fordert „das Unbedingte, welches sich doch nie finden läßt“ und legt dem Sinnlichen (als Erscheinung) „etwas Übersinnliches (das intelligible Substrat der Natur außer uns und in uns) als Sache an sich selbst“ unter, ibid. § 57 (II 204). „Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte; dahingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht. Ohne Begriffe des Verstandes aber, welchen objektive Realität gegeben werden muß, kann die Vernunft gar nicht objektiv (synthetisch) urteilen, und enthält als theoretische Vernunft für sich schlechterdings keine konstitutiven, sondern bloß regulative Prinzipien. Man wird bald inne, daß, wo der Verstand nicht folgen kann, die Vernunft überschwenglich wird, und in zwar gegründeten Ideen (als regulativen Prinzipien), aber nicht objektiv gültigen Begriffen sich hervortut; der Verstand aber, der mit ihr nicht Schritt halten kann, aber doch zur Gültigkeit für Objekte nötig sein würde, die Gültigkeit jener Ideen der Vernunft nur auf das Subjekt, aber doch allgemein für alle von dieser Gattung, d. i. auf die Bedingung einschränke, daß nach der Natur unseres (menschlichen) Erkenntnisvermögens, oder gar überhaupt nach dem Begriffe, den wir uns von dem Vermögen eines endlichen vernünftigen Wesens überhaupt machen können, nicht anders als so könne und müsse gedacht werden: ohne doch zu behaupten, daß der Grund eines solchen Urteils im Objekte liegt“, ibid. § 76 (II 266); vgl. Rel. 1. St. Allg. Anmerk. 4. Anm. (IV 57); 2. St. 1. Abs. 3. Anm. (IV 79); 2. St. 2. Abs. Allg. Anmerk. 3. Anm. (IV 101). Vgl. Vernunft (reine, praktische), Ästhetisch, Dialektik, Antinomien, Unbedingt, Übersinnlich, Einheit, System, Totalität, Reihe, Unendlichkeit, Metaphysik, Grenze, Transzendent, Paralogismen.