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Balsam und Gift

224.

Balsam und Gift. — Man kann es nicht gründlich genug erwägen: das Christentum ist die Religion des altgewordenen Altertums, seine Voraussetzung sind entartete alte Kulturvölker; auf diese vermochte und vermag es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die Ohren und Augen „voller Schlamm“ sind, so dass sie die Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen, die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun den Namen Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen: da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz und die „Posaune des jüngsten Gerichts“ wirken, um solche Völker noch zu einem anständigen Ausleben zu bewegen. Man denke an das Rom Juvenals, an diese Giftkröte mit den Augen der Venus: — da lernt man, was es heißt, ein Kreuz vor der „Welt“ schlagen, da verehrt man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar für ihr Überwuchern des griechisch-römischen Erdreichs. Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden: welche Wohltat, jenen Wesen zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das „bessere Leben“ und dadurch so anspruchslos, so still-verachtend, so stolz-geduldig geworden! — Dies Christentum als Abendläuten des guten Altertums, mit zersprungener müder und doch wohltönender Glocke, ist selbst noch für den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam: was muss es für jene Menschen selber gewesen sein! — Dagegen ist das Christentum für junge, frische Barbarenvölker Gift; in die Helden-, Kinder- und Tierseele des alten Deutschen zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammnis hineinpflanzen, heißt nichts anderes als sie vergiften; eine ganz ungeheuerliche chemische Gärung und Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Urteilen, ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten musste die Folge sein und also im weiteren Verlaufe eine gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker. — Freilich: was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von der griechischen Kultur! was von der ganzen Kultur-Vergangenheit des Menschengeschlechts! — denn die vom Christentume unangetasteten Barbaren verstanden gründlich mit alten Kulturen aufzuräumen: wie es zum Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisierten Britannien mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben. Das Christentum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike „Welt“ unsterblich zu machen. — Nun bleibt auch hier wieder eine Gegenfrage und die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig: wäre vielleicht, ohne jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, imstande gewesen, allmählich von selber eine höhere Kultur zu finden, eine eigene, neue? — von welcher somit der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verloren gegangen wäre? — So steht es auch hier wie überall: man weiß nicht, christlich zu reden, ob Gott dem Teufel oder der Teufel Gott mehr Dank dafür schuldig ist, dass alles so gekommen ist, wie es ist.