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Goethes Irrungen

227.

Goethes Irrungen. — Goethe ist darin die große Ausnahme unter den großen Künstlern, dass er nicht in der Borniertheit seines wirklichen Vermögens lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt das Wesentliche und Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas Höheres zu besitzen, als er wirklich besaß — und irrte sich, in der zweiten Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der Überzeugung erscheint, einer der größten wissenschaftlichen Entdecker und Lichtbringer zu sein. Und ebenso schon in der ersten Hälfte seines Lebens: er wollte von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst ihm schien — und irrte sich schon darin. Die Natur habe aus ihm einen bildenden Künstler machen wollen — das war sein innerlich glühendes und versengendes Geheimnis, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch recht austobe und ihm jedes Opfer bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene, allem Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie er von der größten Leidenschaft seines Wollens sich losbinden und Abschied nehmen müsse. Die schmerzlich schneidende und wühlende Überzeugung, es sei nötig, Abschied zu nehmen, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihm, dem „gesteigerten Werter“, liegt das Vorgefühl von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich einer sagt: „nun ist es aus — nach diesem Abschiede; wie soll man weiter leben, ohne wahnsinnig zu werden!“ — Diese beiden Grundirrtümer seines Lebens gaben Goethe angesichts einer rein literarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte, eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehn von der Zeit, wo Schiller — der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine Zeit liess — ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem literarischen Wesen und Handwerk heraustrieb, erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an: die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten — und er meinte vielleicht immer nur den Verwandlungen einer Göttin auf der Spur zu sein — wurden ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher Kinder seiner Kunst. Ohne die Umschweife des Irrtums wäre er nicht Goethe geworden: das heißt, der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet ist — weil er ebensowenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte.