Verkehr mit J. G. Hamann
Ehe wir uns Kants Schriften während dieser Epoche zuwenden, müssen wir auf seinen Verkehr mit einem der Genannten noch besonders zurückkommen, weil gerade er einen neuen Blick in das innere Wesen Kants ermöglicht: den mit seinem sechs Jahre jüngeren Landsmann Johann Georg Hamann. Schon im Sommer 1756 hatte Magister Kant den damals kürzere Zeit unbeschäftigt in der Heimatstadt weilenden, 26 Jahre zählenden Chirurgensohn flüchtig kennengelernt, und letzterer ihn in einem Briefe an seinen Bruder einen "fürtrefflichen Kopf" genannt, dessen Schriften er zu lesen begierig sei. In näheren Verkehr kamen beide erst 1759 durch zwei gemeinschaftliche Freunde, den aus Königsberg stammenden und schon genannten Rektor Lindner in Riga (der auch in Herders Jugend eine Rolle spielt), und den Sohn eines Rigaer Kaufmannshauses, Christoph Berens. Hamanns Freundschaft mit dem jungen Berens, die auf ihrer gemeinsamen Begeisterung für Deismus und Weltbürgertum begründet gewesen war, hatte durch des ersteren, nach zeitweilig ziemlich leichtsinnigem Leben, plötzlich in London erfolgte "Bekehrung zu Christo" einen Stoß erlitten. Berens suchte nun während seines Königsberger Aufenthaltes den Freund für sich persönlich und für eine freiere Weltanschauung zurückzugewinnen mit Hilfe — Kants. Eine persönliche Aussprache gelegentlich jenes "bäurischen Abendbrotes" blieb ohne Erfolg; desgleichen ein Besuch beider in der Wohnung Hamanns. Vergeblich suchte der Phüosoph letzteren durch Übersetzung einiger Artikel aus der berühmten französischen Enzyklopädie auf andere und freiere Gedanken, vielleicht auch zu etwas Gelderwerb zu bringen. Zwei der ihm von Kant vorgeschlagenen Artikel über das Schöne und über die Kunst, fand der eigenartige Mensch zu fad. Der dritte: vom "Scharwerk und den Gehorcharbeitern" — vielleicht darf man aus diesem Vorschlag auf ein frühes Interesse unseres Philosophen für die von ihm in Judtschen beobachteten Verhältnisse der Landarbeiter schließen — sei zwar gut, liege ihm aber zu fern. Hamanns Ablehnung erfolgte in einem noch erhaltenen ausführlichen Briefe an Kant vom 27. Juli 1759. Statt eines ursprünglich verabredeten weiteren "Kolloquiums" zog nämlich der Magus vor, sein stärkstes Geschütz, das Schreiben, spielen zu lassen. Er ließ an jenem Tage eine gewaltige, in der Akademie-Ausgabe von Kants Briefwechsel neun volle Seiten (I, 7—16) umfassende Epistel oder, wie er selbst drastisch sagt, eine "Granate aus lauter kleinen Schwärmern" auf den "kleinen Magister" los. Von dem letzteren ist leider kein Brief aus dieser Zeit an Hamann erhalten. Um so wertvoller sind für uns die Stellen, an der Kants entgegengesetzte Wesensart in den Zeilen des geistreich-witzigen Brief Schreibers sich widerspiegelt. Gewiß trifft dieser das Richtige, wenn er meint, er müsse Kant "episch" schreiben, weil der Magister die "lyrische Sprache", die der Geschichtsschreiber des menschlichen Herzens anwende, noch nicht zu lesen verstehe. Der Gegensatz beider Naturen tritt ferner in dem ironischen Spott des "Magus" über den Philosophen hervor. Er müsse beinah darüber lachen, dass man einen solchen dazu ausgesucht, um eine Sinnesänderung in ihm hervorzurufen. Möge derselbe auch auf "die Dichter, Liebhaber und Projektmacher" herabsehen "wie ein Mensch auf einen Affen", mit "Lust und Mitleiden" zugleich: über gewisse Dinge solle er sich doch nicht mit ihm einlassen, die er (Hamann) besser beurteilen könne, weil er seine Autoren "nicht aus Journalen, sondern aus mühsamer und täglicher Hin- und Herwälzung derselben" kenne.
Die Liebesmüh' von beiden Seiten war umsonst: jeder blieb auf seinem Standpunkt. Der Magus wahrte seine Selbständigkeit auch einem Kant gegenüber. "Nicht Ihre Vernunft, nicht meine," schrieb er ihm in einem späteren Brief von Ende 1759, "hier ist Uhr gegen Uhr, die Sonne aber geht allein recht." Die Sonne aber war für den "gläubig" gewordenen Hamann einzig das biblische Christentum, und der Philosophie Amt bestand in seinen Augen bloß darin, ein "Zuchtmeister zum Glauben" zu sein, wofür er selbst Humes Skeptizismus in Anspruch nahm. So reiste denn Berens im Oktober d. J. wieder von Königsberg ab, ohne dass es zu einer Erneuerung der alten Freundschaft, gekommen wäre. Eür Hamann aber sind beide, Kant und Berens, die unbeabsichtigten Urheber seiner ersten Schrift, der "Sokratischen Denkwürdigkeiten" (Amsterdam 1759) gewesen, die "Niemand", d. i. dem Publikum, und "Zween", d. i. Berens und Kant, gewidmet waren. Die geistvolle und lebendige Auffassung des Sokrates, dem er allerdings auch manche Züge des eigenen Wesens unterschiebt, insbesondere die mystische Auffassung des sokratischen "Genius", spiegelt sich anscheinend noch in Kants spätester Schrift, freilich vorzugsweise in seiner Abneigung gegen diesen "orakelnden" Genius, wieder.*) Im übrigen tritt die Person Kants in den "Denkwürdigkeiten" ganz zurück; nur einmal wird er, in unbewußter Vorausahmung seines philosophischen Ruhms, mit Newton als "allgemeinem Weltweisen" und philosophischem "Münzwardein" verglichen. Die eigene, im stärksten Kontrast zu der Art Kants stehende Denk- und Schreibweise charakterisiert Hamann in treffender Selbsterkenntnis mit den Worten: "Wahrheiten, Grundsätzen, Systemen bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle."
Der Philosoph hatte demgegenüber wohl das Gefühl, dass eine Verständigung mit einer so entgegengesetzten Natur ausgeschlossen sei. Gleichwohl hat er eine in den 'Hamburger Nachrichten' erschienene Besprechung der Schrift, nach der "kein Jakob Böhme, kein wahnsinniger Schwärmer unverständlicheres und unsinnigeres Zeug reden und schreiben kann, als man da zu lesen bekommt" (Hamann), sicherlich weder selbst geschrieben noch veranlaßt, wie der mißtrauische Hamann eine Zeitlang argwöhnte. Denn noch in dem gleichen Jahre 1759 besprach er mit diesem ganz freundschaftlich den Plan einer gemeinsam abzufassenden "Kinderphysik", d. h., wie sich aus Hamanns ausführlichen zwei Antwortschreiben ergibt, einer Art Physischer Geographie oder Naturgeschichte für die Jugend, die von den ersten Elementen des Weltalls bis zu den Tieren und Menschen führen sollte. Kant, im Gefühl seiner Schwäche in Sachen praktischer Pädagogik, wandte sich an den in dieser Beziehung besser beschlagenen Hamann. Dieser traute allerdings — und wohl mit Recht — dem gelehrten Magister, dem kaum die Studenten im Kolleg zu folgen vermochten (s. S. 83), nicht zu, dass er sich in die Seele der Kinder zu versetzen, "sich zu ihrer Schwäche herabzulassen vermöge". Ein "Philosoph für Kinder" müsse "Herz" genug haben, der Verfasser einer "einfältigen, törichten und abgeschmackten" Naturlehre zu sein und, was für Hamann die Hauptsache war, "auf dem hölzernen Pferde der mosaischen Geschichte zu reiten" sich bequemen! Das war denn doch nicht Kants Fall. Denn am wenigsten konnte er, der der Aufklärung auch der Jugend dienen wollte, geneigt sein, den Unterricht eng an den biblischen Schöpfungsbericht anzuknüpfen. So ist es zu der gemeinsamen Arbeit und zu einem Schulbuche aus seiner Feder nicht gekommen. Er muß wohl Schweigen als die beste Antwort betrachtet haben, denn in einem zweiten Briefe beklagt sich Hamann bitter über Kants Stillschweigen, das "eine Beleidigung für mich ist, die ich ebensowenig erklären kann ... als Sie meine auffahrende Hitze". Gekränkt erklärt er: "Es ist Ihnen aber nichts daran gelegen, mich zu verstehen. ... Das heißt nicht philosophisch, nicht aufrichtig, nicht freundschaftlich gehandelt." Damit scheint eine längere Pause in dem schriftlichen und mündlichen Verkehr beider eingetreten zu sein. Wir werden auf das spätere Verhältnis Kants zu dem merkwürdigen Manne noch zurückkommen.
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*) Vergleiche das Register meiner Ausgabe der "Anthropologie" (Philos. Bibl. Bd. 44) unter "Sokrates".