Vorlesung über Pädagogik


Ein merkwürdiges Zusammentreffen wollte es, dass Kant gerade im Wintersemester 1776/77 zum ersten Male, vor 30 Zuhörern, ein 1774 von der Universität "zur Verbesserung des hiesigen Schulwesens" vorgeschlagenes und dann von der Regierung angeordnetes Kolleg über praktische Pädagogik las, womit die Professoren der philosophischen Fakultät abwechseln sollten. Kein Zufall war es natürlich, dass Kant als Kompendium — Basedows "Methodenbuch" zugrunde legte, von dem er sich jedoch durchaus nicht abhängig beweist. Als er wieder an der Reihe war (Sommer 1780), hat er allerdings Bocks 'Lehrbuch der Erziehungskunst für christliche Eltern und künftige Jugendlehrer' benutzt; aber wohl nur, weil es vorgeschrieben war, denn es steht neben der Kolleganzeige: "auf königliche Vorschrift", Die Zuhörerzahl war diesmal auf 60 gestiegen; er las vom 12. April bis 12. September. Kant hat das Kolleg als ein- oder zweistündiges Publikum noch zweimal in den 80er Jahren wiederholt angekündigt, aber nicht gelesen, weil das Kolleg fortan dem Gründer des pädagogischen Seminars, Professor Wald, überlassen wurde.

Diese Vorlesung war populär gehalten, wie das ein Jahr vor seinem Tode unter dem Titel 'Kant über Pädagogik' von Rink herausgegebene Konzept zeigt, eine Fundgrube feiner und treffender Bemerkungen, die neben dem ethischen Idealisten den erfahrenen Menschenkenner, aber auch Verständnis der Kindesseele verraten. Rousseauscher Geist lebt darin bis in viele Einzelheiten, modifiziert durch den Pflichtgedanken der eigenen Ethik. Es wäre eine interessante, soviel wir wissen, noch nirgends gelöste Aufgabe, die Übereinstimmungen und Verschiedenheiten zwischen beiden im einzelnen nachzuweisen.*) "Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht", und "hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur". Aber sie ist eine "Kunst, deren Ausübung durch viele Generationen vervollkommnet werden muß". Die Pädagogik muß daher "ein Studium", der Mechanismus in ihr in "Wissenschaft" verwandelt werden. Ihr Prinzip soll die "Idee der Menschheit" sein. Zwang muß sein, aber er soll zur Freiheit führen. Neben dem Gehorsam sind die Kinder vor allem an Wahrhaftigkeit zu gewöhnen, denn in erster Linie kommt es auf Gründung eines Charakters an. Öffentliche Erziehung ist im allgemeinen der privaten vorzuziehen, darf jedoch nicht einseitig im bloßen Nützlichkeitsinteresse des Staates oder gar der Fürsten ausgeübt werden; sie soll ungefähr bis zum 16. Jahre gehen. Auch die körperliche Erziehung — sogar die Ernährung der Säuglinge — wird ausführlich erörtert. Man liest mit einigem Ergötzen, wie der große Philosoph gegen das "mumien"hafte Einwickeln und gegen das Wiegen der Kleinen, gegen Leitband und Schnürbrust zu Felde zieht. Auch der Wert des Spiels — Kant kennt sie alle, vom Ball, Kreisel und Papierdrachen bis zu dem schon bei den Griechen üblichen Blindekuhspiel — und der Abhärtung wird betont. Von früh auf muß das Kind arbeiten, später vor allem denken und selbst etwas hervorbringen lernen; mit dem Wissen muß allmählich das Können verbunden werden. Die Moralisierung soll man nicht, wie es meist noch geschieht, dem Prediger überlassen, sondern man müßte einen Katechismus dessen, was recht ist, aufstellen, wie es Kant selbst später in seiner Kritik der praktischen Vernunft versucht hat. Auch für rechtzeitige sexuelle Aufklärung tritt der Philosoph ein. Die einzelnen Unterrichtsfächer werden nur kurz gestreift, indes auch hier schon ganz moderne Gesichtspunkte aufgestellt: die lebenden Sprachen lernt man am besten durch den Umgang; die Geschichte ist ein treffliches Mittel, die Urteilskraft zu üben; im geographisch-historischen Unterricht wird Ausgehen von der Gegenwart, sowie Veranschaulichung durch Kupferstiche und Karten empfohlen. Übrigens auch schon Zeichnen und Modellieren. Mit dem Wissen ist ferner das Sprechen zu verbinden, von auswendig gelernten Reden dagegen nichts zu halten. Die Erziehung muß überhaupt alle Gemütskräfte (Sinne, Verstand, Urteilskraft, Gedächtnis) gleichmäßig ausbilden.

Manche Ergänzungen bringen die jetzt von Adickes neu veröffentlichten Reflexionen zur Anthropologie (Ak.-Ausg. XV). Noch stärker wird dort die Freiheit des Kindes betont: "Das Kind muß frei erzogen werden", doch "so, dass es auch andere frei läßt"; abgesehen natürlich von dem Zwange der notwendigen Disziplin. Es muß "das Recht der Menschen achten", "freimütig sprechen lernen und keine falsche Scham annehmen", nicht genötigt werden, sich zu verstellen. Es soll Abscheu vor der Lüge bekommen, erst Moral und dann Religion, soll entbehren lernen und doch "fröhlichen Gemütes dabei sein" (Nr. 1473). Die Sprache, das Rechnen und das Historische können, nach einem verständigen Plane "mechanisch erlernt", dagegen Sittenlehre und Religion "müssen logisch traktiert werden" (1746). Für untersuchungswert erklärt er den "wichtigen Gedanken des Rousseau", dass die Bildung des Charakters der Mädchen bei der Erziehung auf das männliche Geschlecht und überhaupt auf Sitten den größten Einfluß haben würde. "Jetzt werden die Mädchen nur dressiert zu Manieren, aber nicht gebildet zu Sitten und guter Denkungsart" (1281). Freilich muß die weibliche Natur erst noch "besser studiert" werden; bis dahin tue man am besten, "die Erziehung der Töchter den Müttern zu überlassen und sie mit Büchern zu verschonen" (1290; vgl. auch 1303). — Noch mehr tritt für sein, wie der meisten "Philanthropen", Interesse die Volksschule zurück. Für diese sollte, wenn wir von dem wackeren preußischen Landedelmann von Rochow absehen, erst Heinrich Pestalozzi die Bahn brechen.

Auch im Anthropologie-Kolleg sucht er seine Zuhörerschaft für die neue Pädagogik Rousseau-Basedows zu begeistern. "Die jetzigen Basedowschen Anstalten sind die ersten, die nach dem vollkommenen Plane geschehen sind. Dieses ist das größte Phänomen, was in diesem Jahrhundert zur Verbesserung der Vollkommenheit der Menschheit erschienen ist, dadurch werden alle Schulen in der Welt eine andere Form bekommen, dadurch wird das menschliche Geschlecht aus dem Schulzwange gezogen, es ist zugleich eine Pflanzschule vieler Lehrmeister" (Kollegnachschrift in Ak.-Ausg. XV, S. 792 A.). Ehe man die ideale "Normalschule" errichten kann, muß man sich eben zunächst mit "Experimentalschulen" begnügen.

Und die "einzige" Experimentalschule, die hier gewissermaßen den Anfang machte, war eben das Dessauische Institut. "Man muß ihm diesen Ruhm lassen, ohngeachtet der vielen Fehler, die man ihm zum Vorwurf machen könnte. ... Es war in gewisser Weise die einzige Schule, bei der die Lehrer die Freiheit hatten, nach eigenen Methoden und Plänen zu arbeiten, und wo sie unter sich sowohl als auch mit allen Gelehrten in Deutschland in Verbindung standen." Man muß auch in Sachen der Erziehung an dem herrlichen Ideale, das man sich gesteckt, nicht gleich verzweifeln, wenn man es nicht sofort verwirklichen kann und "nur nicht gleich die Idee für chimärisch halten und sie als einen schönen Traum verrufen, wenn auch Hindernisse bei ihrer Ausführung eintreten. ... Erst muß unsere Idee nur richtig sein, dann ist sie bei allen Hindernissen, die ihrer Ausführung noch im Wege stehen, gar nicht unmöglich. ... Und die Idee einer Erziehung, die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft" (Einl. zur Pädag., in meiner Ausgabe Bd. 50 der Philos. Bibl., S. 96).

Noch heute können wir auch in pädagogischen Dingen von Kant mindestens eins lernen: den Mut der Konsequenz. Noch heute, nach mehr als vier Generationen, sind trotz aller Fortschritte in methodischer, technischer und intellektueller Hinsicht seine Grundforderungen, vor allem auf dem Gebiet der ihm besonders am Herzen liegenden religiösen Unterweisung, in unseren öffentlichen Schulen keineswegs durchgeführt. Sie müßten uns zum Leitstern dienen. Mag Immanuel Kant sich auch in praxi, ähnlich Pestalozzi, nicht als ein gewandter Schulmeister im gewöhnlichen Sinne des Wortes erwiesen haben: ein praeceptor Germaniae im höheren Sinne ist er darum doch gewesen.

 

________________

*) Bezüglich Basedows ist es geschehen in der tüchtigen Schrift von Walter Schwarz, J. Kant als Pädagoge, Langensalza 1915, der nachweist, dass Kant gegenüber Basedows Glückseligkeitstheorie, seinen vielfach künstlichen Erziehungsmitteln, seiner Bevorzugung des Spiels und Betonung der Religion den strengen Pflichtbegriff, die natürlichen Mittel, den Wert der Arbeit betont.


 © textlog.de 2004 • 14.11.2024 22:56:20 •
Seite zuletzt aktualisiert: 30.12.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright