Brief an Moses Mendelssohn
Der zweite Denker, der fast um die nämliche Zeit mit Kant in nähere Beziehungen zu treten suchte, war sein siegreicher Mitbewerber um den Akademiepreis von 1763, der damals 36jährige Moses Mendelssohn. Mendelssohn, einer der Hauptmitarbeiter von Nicolais 'Literaturbriefen', hatte sich schon früher für seinen Königsberger Rivalen interessiert, dessen Schriften über das Dasein Gottes und die syllogistischen Figuren in dieser vielgelesenen Zeitschrift günstig besprochen und ihn so wie Kant noch später gegen Kraus dankbar bekannte, "in das Publikum eingeführt". Mendelssohn war übrigens keineswegs in dem Sinne Popularphilosoph, dass er den streng methodischen Betrieb der Philosophie getadelt hätte. Er hatte im Gegenteil gleich in seinen ersten Beiträgen zu den Literaturbriefen (1759 bis 1765) in Wendungen, die ganz ähnlich 15 Jahre später die Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft gebraucht, beklagt, dass die Philosophie, einst die "Königin der Wissenschaften", jetzt zu den niedrigsten Mägden herabgestoßen sei. Das sei die Folge davon, dass man sie jetzt zur Modeware mache, "leicht, faßlich und schön" darstellen wolle; er aber wolle lieber "subtil" sein, als der Strenge des Beweises etwas vergeben. In sehr freundschaftlichem Tone muß er wohl an Kant zu Anfang 1766 geschrieben haben; denn dieser beginnt seine Antwort vom 7. Februar dieses Jahres mit den an Lamberts Brief erinnernden Worten: "Es gibt keine Umschweife von der Art, wie sie die Mode verlangt, zwischen zwei Personen, deren Denkungsart durch die Ähnlichkeit der Verstandesbeschäftigungen und die Gleichheit der Grundsätze einstimmig ist." Die von Mendelssohn vorgeschlagene Fortsetzung der Korrespondenz nimmt er deshalb auch, ebenso wie bei Lambert, mit Vergnügen an und sendet ihm zugleich die eben erschienenen 'Träume eines Geistersehers'.
Näher läßt er sich — und zwar in höchst interessanter Weise — über seinen persönlichen und philosophischen Standpunkt erst in seinem nächsten Briefe vom 8. April 1766 aus, der auf Mendelssohns "Befremdung" über den Ton der zwischen Scherz und Ernst die Mitte haltenden 'Träume' antwortet. Wie er schon in dieser Schrift selbst erklärt hatte, er habe nun einmal "das Schicksal, in die Metaphysik verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann", so hält er auch in dem Briefe an Mendelssohn die Metaphysik an sich, "objektiv erwogen", keineswegs "vor gering oder entbehrlich"; er ist vielmehr, "vornehmlich seit einiger Zeit", davon "überzeugt, dass sogar das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschlechts auf ihr ankomme". Aber er ist ein erklärter Feind der gegenwärtigen, "aufgeblasenen" und "ganz verkehrten" Art von Metaphysik und hält deren "gänzliche Vertilgung" für weniger schädlich als das Fortdauern einer solchen "erträumten Wissenschaft". Dieser heute im Schwange gehende, in "ganzen Bänden" voller Anmaßung feilstehenden Metaphysik müsse das dogmatische Kleid abgezogen und ihre vorgeblichen Einsichten skeptisch behandelt werden. Das sei zwar vorerst nur ein negativer Nutzen, indes er bereite zum positiven vor; die Scheineinsicht eines verderbten Kopfes bedürfe zuerst eines Kathartikon (Reinigungsmittels). Er selbst sei seit einiger Zeit mit dahin zielenden Arbeiten beschäftigt und hoffe auf Mendelssohns Unterstützung.
Wir gehen nicht auf die außerdem in dem reichhaltigen Schreiben enthaltenen Ausführungen über das Thema und den Ton der 'Träume' ein. Wichtiger für uns ist das Selbstbekenntnis über seinen Charakter, wertvoller um so mehr, da der Philosoph uns selten so direkt in die Tiefe seiner Persönlichkeit blicken läßt. Gegenüber dem Vorwurf der Zweideutigkeit im Ausdruck erklärt Kant mit einer Wärme, wie wir sie nicht oft in seinen Briefen finden: "Was es auch vor Fehler geben mag, denen die standhafteste Entschließung nicht allemal völlig ausweichen kann, so ist doch die wetterwendische und auf den Schein angelegte Gemütsart dasjenige, worin ich sicherlich niemals geraten werde, nachdem ich schon den größesten Teil meiner Lebenszeit hindurch gelernt habe, das meiste von demjenigen zu entbehren und zu verachten, was den Charakter zu korrumpieren pflegt." Das größte Übel, das ihm begegnen könnte, aber "ganz gewiß niemals begegnen wird", würde der "Verlust der Selbstbilligung" sein, die "aus dem Bewußtsein einer unverstellten Gesinnung entspringt"*). Und nun, nach dem so gezeigten Mut zur radikalen Konsequenz im Denken, der Verachtung alles äußeren Scheins und der unbedingten Wahrhaftigkeit vor sich selbst, die Einschränkung, die er gegenüber dem Aussprechen der Wahrheit macht: "Zwar denke ich vieles mit der allerklärsten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit, was ich niemals den Mut haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht denke." Wir werden uns noch daran zu erinnern haben.
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*) Die Sperrungen rühren von uns her.