Der Brief an M. Herz vom 21. Februar 1772


Glücklicherweise ist uns ein langes Schreiben Kants vom 21. Februar 1772 an den treuen Marcus Herz erhalten, in dem er einen klaren Bericht über seine philosophische Entwicklung und seine schriftstellerischen Pläne während der letzten 1½ Jahre gibt. Danach sollte das damals geplante Werk sein ganzes philosophisches System bringen: A. Einen theoretischen Teil: 1. Die Lehre von den Erscheinungen, 2. Natur und Methode der Metaphysik; B. einen praktischen: 1. Die Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der sinnlichen Begierde [mithin eine Art Psychologie und Ästhetik], 2. Die "ersten Gründe" der Sittlichkeit [also eine Begründung der Ethik]. Und zwar wollte er den zweiten Teil, in dem er bereits klar zu sehen glaubte, zuerst abfassen. Noch Ende 1773 hatte er diese Absicht und freute sich im voraus darauf (an Herz, Briefw. I, 138).

Indes schon im Februar 1772 hatte er, bei nochmaligem Durchdenken des Ganzen, bemerkt, dass ihm "noch etwas Wesentliches mangele", was in Wahrheit "den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht". Nicht etwa, dass er sich in dem Gedanken hätte irren machen lassen, der bei den von ihm so hochgeschätzten "besten Köpfen" unter den damaligen Philosophen, den drei Berlinern Lambert, Mendelssohn und Sulzer, am meisten Anstoß erregt hatte, durch den ihnen alle "Realität" verloren zu gehen schien: der Subjektivität von Raum und Zeit. An dieser damals den meisten noch ganz ungewohnten, als verbohrter "Idealismus" erscheinenden Auffassung hat er vielmehr von 1770 an unverbrüchlich festgehalten. Sondern er fühlte, dass in der Dissertation die Frage noch nicht allseitig geklärt war: Auf welchem Grunde beruht die Beziehung unserer Vorstellungen zu dem Gegenstand? Für die Sinneswahrnehmungen erschien sie ihm klar: sie werden einfach von den äußeren Objekten affiziert. Ebenso auch in der Mathematik und der Moral, wo unser Verstand bzw. Wille die Gegenstände erst hervorbringt. Anders bei den von den sinnlichen Wahrnehmungen abstrahierenden reinen Verstandesbegriffen. Wie soll, so lautet die neue Frage, mein Verstand "gänzlich a priori reale Grundsätze über die Möglichkeit von Begriffen entwerfen, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß, und die doch von ihr unabhängig sind?" (Briefw. I, 126). Es ist die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft, die hier aufkeimt: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" In der Dissertation standen Sinneswahrnehmung und Verstand, Anschauung und Denken einander noch schroff gegenüber; die Verbindung beider zur Einheit der Erfahrung war noch nicht gefunden.

Ein solcher Standpunkt war aber auf die Dauer unhaltbar. Kant konnte nicht bei ihm stehenbleiben. Und so befindet er sich von da an auf dem endgültigen Wege zur Kritik der reinen Vernunft. Bezeichnenderweise taucht denn, wie ihr Problem, so auch ihr Name in dem Briefe vom 21. Februar 1772 zum ersten Male auf (a. a. O., S. 126). Ganz abgewiesen wird jetzt jene halbmystische Einmischung des Gottesbegriffes, wie ihn Plato, Malebranche und Crusius für nötig gehalten hätten, um die Übereinstimmung unserer Begriffe mit den Dingen zu erklären. Ein solcher Deus ex machina sei "in der Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unserer Erkenntnisse das Ungereimteste, was man nur wählen kann", und habe "außer dem betrüglichen Zirkel in der Schlußreihe unserer Erkenntnisse auch noch den Nachteil, "dass er jeder Grille oder andächtigem oder grüblerischem Hirngespinst Vorschub gibt". 'Auch der Name Transzendentalphilosophie für den Inbegriff "aller Begriffe der gänzlich reinen Vernunft" wird hier zum erstenmal gebraucht. Und für die Einteilung der letzteren sind bereits die Kategorien gefunden, nicht die von Aristoteles "aufs bloße Ungefähr nebeneinander gesetzten", sondern "so, wie sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstandes von selbst in Klassen einteilen".


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