Shakespeare


Kant scheint in der Tat einige Schauspiele Shakespeares, auf den ihn schon die Lektüre von Herders Jugendschriften aufmerksam machen mußte, gekannt zu haben; und zwar, da er ihn im Original schwerlich zu lesen vermochte, aus Wielands Übersetzung (1762—1766). In der 'Anthropologie' (1798) erwähnt er, obwohl in ungenauer Form, Falstaffs Kampf mit den "fünf Männern in Frieskleidern"; in der 'Religion' (1793) erinnert die Stelle, die von einer Art "Wahnsinn" spricht, "in welchem gleich wohl Methode sein kann" auffallend an den bekannten Vers im Hamlet, dessen Name auch auf einem Losen Blatt zitiert wird (S. W. XV, S. 875) und mit dessen Charakter die Zeichnung des Melancholikers in den 'Beobachtungen' (1764) auffallend übereinstimmt, wie Tim Klein in einem interessanten kleinen Aufsatz in den 'Kantstudien' (X 76—80) gezeigt hat. Der in seiner anthropologischen Vorlesung gebrauchte Vergleich der Zeit mit einem Pferde, weil sie mit einem zum Galgen geführten Dieb galoppiere, für einen Bräutigam im Paßschritt gehe, stammt aus Shakespeares 'Wie es Euch gefällt'. Auch wird ein so gewissenhafter Denker wie er kaum ohne vorhergehende eigene Lektüre Urteile ausgesprochen haben, wie sie von seinen Zuhörern nachgeschrieben worden sind: "Shakespeare ist ein Kopf von der Art, die man Genies nennt; er hat seine theatralischen Stücke so abgefaßt, dass sie allen Regeln Trotz bieten. Er hat weder die Einheit des Orts noch der Personen beobachtet, nicht aus Unwissenheit, sondern weil seine Einbildungskraft einen weiten Spielraum haben mußte und sich nicht einkerkern ließ." Er meint dann freilich, vielleicht mit Beziehung auf Goethe und andere deutsche Shakespeareaner: ob es rühmlich sei, ihm nachzuahmen, sei eine andere Frage; denn Regellosigkeit sei immerhin ein Fehler. Allein er fährt doch, das Genie rechtfertigend, fort: "Die Fruchtbarkeit des Genies ersetzt ihn wieder. So viel ist gewiß, dass der Zwang der Regeln bei vorzüglichen Eigenschaften des Genies aufhört; denn das Genie ist der Meister der Regeln und nicht ihr Sklave." Es verrät den Einfluß Lessings, den er, wie wir sahen, einen "großen Kenner der theatralischen Regeln" nennt, wenn er daran anschließend bemerkt: von den konventionellen Regeln des französischen Theaters könne man am ehesten abweichen (Starkes Ausgabe der 'Menschenkunde', S. 234 f.). Eine andere Stelle der Vorlesungsnachschriften sagt: "Zum Genie wird Stärke, Klarheit, Mannigfaltigkeit und ein großer Umfang der Anschauung erfordert. Diese Eigenschaften müssen hauptsächlich Dichter und Maler besitzen. Bei Milton und Shakespear sind sie vorzüglich anzutreffen" (Schlapp, S. 251 f.). An einer dritten: "Der Geschmack ist nicht das Wesentliche des Genies, er tut nur die Feinheit zu den Erzeugnissen des Genies hinzu, um sie gleichsam zu glätten; das Genie kann sehr rohe Produkte hervorbringen, z. B. Shakespeare; da zeigt das Genie seine ganze Kraft und läßt sich nicht durch das Beispiel einschränken" (ebd. S. 256). Womit die Nachlaß-Notiz zu vergleichen ist: "Das Genie ist roh, der Virtuose poliert. Shackspear" (XV, S. 824). Das Genie aber darf roh sein; das Abschleifen nimmt ihm etwas vom Inhalt (ebd. S. 356).


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