Goethe
(Werther und Goetz)
Der berühmteste allerdings von allen Stürmern und Drängern, der junge Goethe, fehlt in der Liste derer, die mit dem Königsberger Weisen in Beziehung traten. Trotzdem hat dieser sicher von Götz und Werther gehört, höchstwahrscheinlich sie, wenigstens den Werther, auch selbst gelesen. Das läßt sich schon deshalb annehmen, weil sein früh verstorbener Kollege Kreuzfeldt, dessen "Opponent" er bei seiner Habilitation war, die belebende Seele eines jüngeren, für den Werther wie für Lavater begeisterten Dichterkreises bildete. Wenn ferner Hamann in einem Briefe vom 18. Februar 1775 "des Herrn Nicolai Leiden und Freuden über D. Goethe lieben Werther", die der Philosoph aus dem Laden seines Hauswirts entliehen hatte, baldigst von Kant zu erhalten wünscht, so hat dieser doch sicherlich auch den von Nicolai verspotteten, aber in ganz Deutschland verschlungenen Roman selbst gelesen. Würde doch sonst Hamann auch nicht einige Wochen später in einem anderen Schreiben an Kant von Schwierigkeiten sprechen, die "das ganze Martyrologium des lieben Werthers überwiegen". Und Götz wurde neben Clavigo in einem Bande, 'Theater der Deutschen', von Kanter nachgedruckt, in der Kanterschen Zeitung von Hippel ausführlich gepriesen. Ein gewisses Interesse des Philosophen für das Drama verrät auch das in seinem Nachlaß gefundene Lose Blatt aus den 70er Jahren, auf dem er die Worte "Leben Götz von Berlichingen" notiert hat, selbst wenn sie, wie Adickes meint, nicht auf das Stück, sondern auf eine Ostern 1774 erschienene Lebensbeschreibung Götzens gehen sollten (Ak.-Ausg. XV, S. 690 f. Anm.).
Wichtiger indes als der Nachweis persönlicher Beziehungen ist der Standpunkt, auf den sich Kant gegenüber den Erzeugnissen der Genieperiode gestellt hat, auch da, wo er sie nicht mit Namen nennt. Dafür fließt jetzt eine neue, reiche Quelle in dem erst seit kurzem vollständig veröffentlichten handschriftlichen Nachlaß zur Anthropologie (Ak.-Ausg. XV); in zweiter Linie in den natürlich mit größerer Vorsicht aufzunehmenden Nachschriften seiner Vorlesungen.*) Kaum abzuweisen ist doch z. B. der Gedanke an Werthers Leiden, wenn er in seinem Anthropologie-Kolleg die Zuhörer von den Wirkungen der Phantasie, die "über alle Dinge einen Zauber ausgießt", mit den Worten warnt: "Die Geschlechtsneigung beruht mehr auf der Phantasie als auf der Wirklichkeit; daher muß man sich in der Einsamkeit mit dem Schwärmen der Phantasie über Geschlechtsneigung nicht einlassen; denn erstlich ist es uns unnütz, zweitens ist es ein Übel und der Natur nicht gemäß." Die Wilden seien in dieser Hinsicht natürlicher und nicht so reizbar als wir. Die "herzbrechenden", das Herz "welk" und weich machenden, "empfindelnden" Romane, und sei es selbst ein Werther, waren dem männlichen Kant ebenso zuwider wie dem gleich männlichen Lessing; wie denn überhaupt sein Nachlaß und seine populären Vorlesungen öfters gegen das viele Romanlesen seiner Zeit zu Felde ziehen. Sein Urteil aber über den Götz können wir uns am besten klarmachen, wenn wir uns vor Augen führen, was sich über seine Stellung zu dessen Vorbild, dem großen Briten, ausmachen läßt.
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*) Leider sind diese noch nicht in der Akademie-Ausgabe erschienen. Reiches Material gerade für unser Thema gibt vorläufig O. Schlapp, Kants Lehre vom Genie usw. Göttingen 1901.