Kant und Lavater


Herder war infolge seiner religiösen Wandlung seit 1772 auch mit dem bekannten Züricher Lavater in Verbindung getreten, der damals noch nicht in seine spätere Mystik verfallen war, sondern durch sein Freisein von dogmatischer Dürre wie durch Gemütstiefe und Herzenswärme auch einen Goethe bezauberte. Herder gar sah in ihm einen wahrhaft apostolischen Charakter, eine "strahlenheitere, tatlautere, wirksame Religionsseele". Da der Schweizer nun in Kant einen Freund seines teuren Herder sah, benutzte er einen äußeren Anlaß — den beabsichtigten Loskauf eines aus Leichtsinn preußischer Soldat zu Königsberg gewordenen jungen Landsmannes —, um am 8. Februar 1774 einen Briefwechsel mit Kant, seinem "Lieblingsschriftsteller (!)" seit Jahren anzuknüpfen, der ja nicht ein Philosoph "à la Wolf", sondern "so sehr Mensch, Mensch ist wie Kant". Er sucht ihn vor allem zur Wiederaufnahme seiner literarischen Tätigkeit zu bestimmen, indem er ihn in seiner aufgeregten Weise, mit vielen Gedankenstrichen und Fragezeichen, also bestürmt: "Sind Sie dann der Welt gestorben? warum schreiben so viele, die nicht schreiben können — und Sie nicht, die's so vortrefflich können? warum schweigen Sie — bey dieser, dieser neuen Zeit — geben keinen Ton von sich? Schlafen? Kant — nein, ich will Sie nicht loben — aber sagen Sie mir doch, warum Sie schweigen? oder vielmehr: Sagen Sie mir, dass Sie reden wollen." Dann bittet er ihn noch um "einige Lichtgedanken in mein Menschengedicht — was Sie wollen, ohne Ordnung, Zusammenhang — nur Zeilen — damit ich bald etwas empfange...." Und wieder am 8. April d. J.: "Ohne Schmeichelei seit vielen Jahren sind Sie mein liebster Schriftsteller, mit dem ich am meisten sympathisiere; besonders in der Metaphysik, und überhaupt in der Manier und Methode zu denken!" Dann folgen wieder ein halb Dutzend aufgeregte Fragen, ob Kant auch das und das und das in seiner Kritik der reinen Vernunft, auf die "ich und viele meines Vaterlands sehr begierig sind", sagen werde, unter anderem der von Kants Denkart ganz abseits liegende, eher zum heutigen Pragmatismus passende Satz: "dass alle und jede Beschäftigungen, Schriften, Meditationen, Lesungen Torheit und Kinderei seien, die nicht präzise Stillungs- und Sättigungsmittel menschlicher Bedürfnisse sind." Doch wolle er gern seine Ungeduld nach dem Werke mäßigen, wenn dies dadurch — was Kants leider verlorener Brief offenbar angedeutet hatte — "reifer und entscheidender" werde. "Tausend Schriftsteller führen ihre Werke nicht bis zum Epoche machenden Entscheidungspunkt; Sie" — und da hat der Züricher Prophet einmal richtig prophezeit — "sind der Mann dazu".

Eine starke Ernüchterung wird Lavaters überschäumende Begeisterung erlitten haben, als er, noch dazu erst nach einem vollen Jahre, das von Kant erbetene Urteil über seine Abhandlung 'Vom Glauben und Gebet' erhielt. Es ist in allem Wesentlichen schon ganz der Standpunkt der 'Religion innerhalb der bloßen Vernunft', der uns in diesem Schreiben Kants vom 28. April 1775, sowie in einem nachträglich verfaßten Briefentwurf (Briefw. I, S. 171 f.) entgegentritt, und wir werden deshalb an späterer Stelle darauf zurückkommen. Lavater ist denn auch etwas abgekühlt und dankt erst am 6. März des folgenden Jahres für die "lehrreichen Winke", obgleich — "ich anders denke in einigen Stücken". Gleichwohl blieb ein freundliches persönliches Verhältnis zwischen beiden bestehen. Als ein früherer Zuhörer des Philosophen, der junge Prinz von Holstein-Beck, im Winter 1775/76 ein Schreiben desselben nach Zürich brachte, freute sich Lavater, "jemand zu finden, mit dem ich mich satt und nicht satt über Kanten sprechen konnte" (Lavater an Kant, 6. März 1776), während der Prinz seinem einstigen Lehrer von der interessanten Persönlichkeit und dem neuen physiognomischen Werk des Schweizers berichtet (an Kant, 14. Dezember 1775).

Damit scheint der Briefwechsel zwischen den beiden so entgegengesetzten Männern eingeschlafen zu sein. Dagegen finden wir Lavaters Namen noch öfters, und zwar bei aller Gegnerschaft doch mit Achtung, in Kants Schriften und Nachlaß-Notizen erwähnt. So zogen Lavaters 'Physiognomische Fragmente' (1773 bis 1776) die Aufmerksamkeit des Philosophen auf sich, wenn er in ihnen auch bloß "undeutliche und nur in concreto brauchbare Begriffe ohne Regel" fand (XV, S. 393). Deshalb, meinte er in seinem Anthropologiekolleg von 1785, seien Physiognomen oft Phantasten, die falsch urteilten, wenn sie einen Menschen nicht kennten (ebd., S. 705 A.). Von Lavaters 'Tagebuch eines Beobachters seiner selbst' (1771—1773) urteilte er: "Er ist ein arger Schwärmer, der oft Dinge vorbringt, die mit der Vernunft gar nicht zusammenhängen." Gerade durch dies Buch habe er sich den meisten Schaden getan (S. 664 A.). Und noch in seiner gedruckten Anthropologie von 1798 warnte er vor solchen Selbstbeobachtungs-Tagebüchern, die "leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführen" (§ 4, ed. Vorländer S. 18). Des Zürichers 'Aussichten in die Ewigkeit' (1768—1778) endlich hat er im Sinne, wenn er Ende der 70er Jahre schreibt: "Lavater, mit Ideen angefüllt, in welchen ihm Orthodoxe nicht widersprechen können, schwärmt, indem er sie ganz über den Kreis der Erfahrungserkenntnis ausdehnt." Das rühre bei ihm jedoch nicht von Begriffsverwirrung oder Schwäche des Kopfes her, sondern von einer achtungswerten Konsequenz: er verachte diejenigen, welche jene Voraussetzungen zwar auch teilen, sie aber zugleich mit der Weltklugheit zu verbinden wüßten. Vom "schwärmenden Genie" könne man "wirklich lernen"; denn "entweder seine Grundidee ist vernunftmäßig oder die Folgerung ist dreust und unversteckt und entdeckt dadurch den Fehler in den Grundsätzen, welcher durch schlaue politische Einkleidung nur würde verdeckt bleiben" (ebd. S. 406 f.). Auch noch in der 'Religion innerhalb usw.' meint er mit Recht, Lavater und sein Freund Pfenninger dächten wenigstens folgerichtig, wenn sie Wunder auch in der Gegenwart noch für möglich hielten gegenüber denen, die sie nur für die Zeit Christi gelten ließen (a. a. O., S. 96 A.).


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