Siebentes Kapitel
Die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft

Anfänge


Wir haben in den letzten Kapiteln gesehen, dass sich das innere und äußere Leben des neuen Professors von dem des früheren Magisters nur wenig unterschied: dieselbe Art der Geselligkeit und Lebensweise, die gleiche Anteilnahme an allen wichtigeren geistigen Strömungen der Zeit, dieselbe oder noch gesteigerte Lehrwirksamkeit. Nur eins unterscheidet den Kant der 70er von dem der 60er Jahre: die auffallende Lücke in seinem schriftstellerischen Schaffen. Es steht zwar, wie wir schon sahen, nicht so, als ob er zwischen 1770 und 1780 gar nichts habe drucken lassen; auch beginnt das Zurücktreten seiner literarischen Tätigkeit schon von 1766 ab. Aber, abgesehen von der Pflicht-Dissertation von 1770, erschien in der Tat während jenes ganzen Jahrzehnts nichts Philosophisches aus seiner Feder. Alle Welt wunderte sich, dass der bis dahin so fruchtbare, seit Mitte der 60er Jahre auch in weiteren Kreisen bekannte und beliebte Schriftsteller nichts mehr veröffentlichte. Vergeblich luden ihn die gelesensten Zeitschriften Deutschlands zur Mitarbeit ein. In Königsberg aber erfuhr man, und allmählich verbreitete sich die Kunde davon auch nach dem "Reiche", dass Professor Kant an einem großen philosophischen Werke schreibe. Indes seine früheren Leser suchten umsonst in den Katalogen der Leipziger Oster- und Michaelismesse "nach einem gewissen Namen unter dem Buchstaben K". Es würde ihm zwar, wie er selbst gegen Ende 1773 an seinen Vertrauten Marcus Herz schreibt, ein Leichtes gewesen sein, ihn dort "mit nicht unbeträchtlichen Arbeiten, die ich beinahe fertig liegen habe, paradieren zu lassen". Allein er war "halsstarrig" dazu entschlossen, sich durch keinen "Autorkitzel" verleiten zu lassen, auf einem "leichteren und beliebteren Felde Ruhm zu suchen", ehe er seinen "domigten und harten Boden eben und zur allgemeinen Bearbeitung frei" gemacht, d. h. durch seinen Neubau "der Philosophie auf eine dauerhafte Art eine andere und vor Religion und Sitten weit vorteilhaftere Wendung", dadurch zugleich aber auch "die Gestalt" gegeben hätte, "die den spröden Mathematiker anlocken kann, sie seiner Bearbeitung fähig und würdig zu halten". So war er, während man ihm von allen Seiten Vorwürfe wegen seiner Untätigkeit machte, in Wirklichkeit "niemals systematischer und anhaltender beschäftigt", als eben seit 1770 (an Herz, 24. Nov. 1776).

Manchmal mag den innerlich so Beschäftigten auch das häufige Fragen nach der Fertigstellung seines Werkes empfindlich und nervös gemacht haben. Darauf geht eine noch ungedruckte kleine Erzählung, die Abegg auf seinem Wege nach Königsberg hörte. Einer, der lange vor Herausgabe der Kritik der reinen Vernunft in Königsberg war und in demselben Hause, wo damals Kant wohnte, sehr bekannt war, habe berichtet: "Kant war sehr empfindlich. Wenn ihm, der 20 Jahre an der Kritik arbeitete, gesagt wurde, dass er dieses Werk doch vollenden wolle, antwortete er: Oh, man hat gar so viele Störungen in diesem Hause" (doch wohl dem Kanterschen). "Man gab ihm ein Logis in einem abgelegenen Garten. Oh, da ist mir's zu tot, zu einsam. Aber ein vortrefflicher Gesellschafter und Mensch war er übrigens." Wenn auch die 20 Jahre und der abgelegene Garten nicht stimmen, jedenfalls ein hübsches Stimmungsbild! Zu dieser "Empfindlichkeit" paßt ja auch gut die von Borowski mit Bestimmtheit überlieferte Nachricht, aus dem Kanterschen Hause habe den Philosophen ein — nachbarlicher Hahn vertrieben, der ihn zu häufig im Gange seiner Meditationen unterbrach. "Für jeden Preis wollte er dieses laute Tier ihm abkaufen und sich dadurch Ruhe schaffen, aber es gelang ihm bei dem Eigensinn des Nachbars nicht, dem es gar nicht begreiflich war, wie ein Hahn einen Weisen stören konnte." Also gab Kant nach und zog nach dem Ochsenmarkte.*)

Wenden wir uns nun der schwierigen Frage der Entstehung von Kants kritischem Hauptwerk zu, so wird der Leser weder erwarten noch wünschen, dass wir ihn in die unter den gewiegtesten Kantforschern noch streitigen Einzelheiten dieses Problems einführen. Wir wollen vielmehr nur in großen Zügen darlegen, wie sich uns die Sache darstellt, alle unsicheren Streitfragen beiseite lassend. Wir werden uns dabei hauptsächlich auf Kantische Selbstzeugnisse stützen und diese in einer Form zitieren, dass jeder, der will, sie sich an der betreffenden Stelle aufsuchen kann.

Zunächst ein Satz aus Kants zu seiner Orientierung niedergeschriebenen 'Reflexionen', welcher einen Rückblick auf seine frühere, relativ dogmatische Denkweise wirft. "Ich habe von dieser Wissenschaft (d. h. Metaphysik) nicht jederzeit so geurteilt. Ich habe anfänglich davon gelernt, was sich mir am meisten anpries. In einigen Stücken glaubte ich etwas Eigenes zu dem gemeinschaftlichen Schatze zutragen zu können; in anderen fand ich etwas zu verbessern, doch jederzeit in der Absicht, dogmatische Einsichten dadurch zu erweitern... Es dauerte lange, dass ich auf solche Weise die ganze dogmatische Theorie dialektisch fand," d. h. fand, "dass sie sich in Dialektik, d. i. einen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst auflöste" (hrsg. von B. Erdmann, II. Teil, Nr. 3). Und nun die erst im Jahre 1884 bekanntgewordene bedeutsame Mitteilung in einem Briefe an Garve vom 21. September 1798: "Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit usw. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: Die Welt hat keinen Anfang — sie hat einen Anfang; bis zur vierten (sc. Antinomie): Es ist Freiheit im Menschen — gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit. Diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben."**) Diese Erleuchtung aber fand im Jahre 1769 statt. "Ich sah anfangs diesen Lehrbegriff (sc. den kritischen) nur in einer Dämmerung. Ich versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern, weil ich eine Illusion des Verstandes vermutete, zu entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht" (Erdmann, a. a. O., Nr. 4). Diese Entzweiung der Vernunft ist ein Zustand, über den zwar "der Skeptiker frohlockt, der kritische Philosoph aber in Nachdenken und Unruhe versetzt werden muß" (Prolegomena § 52). Allein dies "merkwürdigste Phänomen" der reinen Vernunft "wirkt auch unter allen am kräftigsten, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäft der Kritik der reinen Vernunft zu bewegen" (ebd. § 50), weil die Vernunft selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen und zur Selbstprüfung zu nötigen (ebenda § 52b, Anm.). Woher aber kommen alle Antinomien? Dadurch, dass man "das Unbedingte in der Sinnenwelt sucht" (Refl. 1400), während die Sinne nur auf Erscheinungen, nicht auf die Dinge an sich gehen. Damit sind wir bei dem Standpunkt der Dissertation von 1770 angelangt.

 

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*) Gelegentlich dieses Umzuges könnte er die in das Jahr 1775 fallende interessante Aufstellung seines Hausrats vorgenommen haben, die Reicke in seinem Nachlaß aufgefunden hat, mitten zwischen schwierigen philosophischen Untersuchungen: "Schlüssel. Schaff. Tintenfaß. Feder und Messer. Papier, Schriften. Bücher. Pantoffeln. Stiefel. Pelz. Mütze. Nachthosen. Servietten. Tischtuch. Handtuch. Teller. Schüssel. Messer und Gabel. Salzfaß. Bouteille. Wein- und Biergläser. Bouteille Wein. Tobak. Pfeifen. Theezeug. Thee. Zucker. Bürste." (Lose Blätter 1894, S. 24.)

**) Dass das Antinomien-Problem ihn eingehend beschäftigt haben muß, beweisen auch die auffallend zahlreich darüber erhaltenen Reflexionen.


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