Ausflüge; Freude an der Natur


Ebenso ist es ein Irrtum, anzunehmen, was in fast allen Darstellungen zu lesen steht, dass Kant so gut wie gar nicht aus den Toren Königsbergs hinausgekommen sei. Das trifft — ganz abgesehen von seinen Hauslehrerjahren, die ihn in zwei entgegengesetzte Ecken der Provinz verschneite — wenigstens für die Magisterzeit durchaus nicht zu. Schon die wenigen Zufallsnachrichten, die uns über diese an sich ziemlich unerheblichen Dinge erhalten sind, zeigen, dass Kant in seinen jüngeren Jahren jedenfalls kein grundsätzlicher Gegner des Reisens gewesen ist. Er hat sogar einmal vorgehabt, England zu besuchen, und Ruhnken und Wielkes laden ihn nach Holland ein (W. an Kant, 18. März 1771); Frau Jacobi rechnet auf seine Begleiterschaft von Berlin nach Königsberg. Und, wenn er auch zu diesen großen Reisen nicht gekommen ist, so ist doch, außer den kleineren Landreisen mit Göschen und Hippel und dem Besuch bei General von Lossow (1765) in dem ziemlich entfernten Goldap in Masuren, auch eine Reise mit Freund Motherby nach Braunsberg zu einer Familie von Schorn bezeugt, die wahrscheinlich in den Anfang der 70er Jahre fällt (v. Baczkos Selbstbiographie, Bd. II, S. 13). Falls vor 1772, so wäre der Philosoph sogar über die Grenzen des damaligen Ostpreußen hinausgekommen; denn Braunsberg liegt bekanntlich in dem bis 1772 noch polnischen Ermeland. Zudem muß man bedenken, welche Anforderungen an den Beutel und — die körperliche Leistungsfähigkeit für einen ohnedies schwächlichen Mann wie Kant eine weitere Reise in damaliger Zeit stellte. Besaß doch noch zwölf Jahre nach seinem Tode die ganze Provinz Preußen erst — eine Meile Chaussee. Die Folgen waren Staub im Sommer, Morast im Winter, tiefe Löcher, Baumstümpfe, Steine überall, infolgedessen steckenbleibende Postwagen usw. Noch im August 1811 spottete der Kant befreundete Dorow, als er mit der Fahrpost von Königsberg abreiste: der Generalpostmeister habe die Lederüberzüge über den Wagen offenbar nur deshalb angeordnet, damit "die Vorübergehenden nicht die Jammergesichter sehen sollten, welche die Mitreisenden über die durch den fürchterlichen Wagen ihnen zugefügten Torturen schnitten". Und wie sollte unseren Kant eine Reise nach Berlin reizen, wenn ihm der viel jüngere Freund und Schüler Marcus Herz nach seiner Ankunft von dort schrieb: "das ungewöhnliche Wachen, das fünftägige Fahren und die ununterbrochenen Erschütterungen, die man auf dem Postwagen empfindet", hätten ihn dermaßen angegriffen, dass er mehrere Tage langunfähig zu der kleinsten geistigen Anstrengung gewesen wäre (H. an Kant, 11. Sept. 1770).

In die nähere und weitere Umgebung Königsbergs dagegen hat er öfters Ausflüge unternommen. So besuchte er mit Green "etlichemal" die sogenannte "Störbude" und die "angenehmen Gegenden um Pillau" (Borowski). Unter der Störbude ist wahrscheinlich ein kleines Haus zu Alt-Pillau zu verstehen, in dem der Stör mariniert und sein Rogen zu "preußischem", bis nach England, Frankreich und Rußland ausgeführtem Kaviar verarbeitet wurde*); Kant hat sich vermutlich die Zubereitung an Ort und Stelle ansehen wollen. Der Stör, der sich übrigens — wie heute noch vereinzelte Möven — manchmal bis nach Königsberg verirrte, wurde bei Pillau in solcher Menge gefangen, dass schon Friedrich Wilhelm I. 1725 dem zur Stadt erhobenen bisherigen "Stördorf" Pillau den einträglichen Meeresbewohner als Wappentier gab. So hat Kant nicht bloß, wie in der Seen-landschaft bei Goldap und zum Teil auch bei Arnsdorf, ansehnliche, bis zu 270 Meter Höhe aufsteigende Hügel gesehen, sondern auch mehr als einmal das Meeresbrausen aus nächster Nähe vernommen, wenn er bei Pillau an den Dünen des Haffs oder der Ostsee gestanden hat und durch die dortigen anmutigen Waldungen gewandert oder gefahren ist. Einmal, als er die Rückfahrt nach Hause zu Schiffe durch das Haff machte — sie betrug bei gutem Wetter vier Stunden —, hat er sogar die Seekrankheit bekommen: wie er in seiner "Anthropologie" meint, "durch die Augen", indem er, aus dem Kajütenfenster sehend, bei dem Schwanken des Schiffs selbst bei gelindem Winde bald den Himmel, bald die See bzw. die Uferhöhen mit der alten Burgruine Balga "in die Augen bekam"; wodurch dann nach seiner Ansicht Magen und Eingeweide zu einer "antiperistaltischen" Bewegung von unten nach oben gereizt wurden.

Im allgemeinen zog er wohl dem erhabenen Anblick des wogenden Meeres den idyllischen von Wald, Wiese und kleineren Flußtälern vor. So erzählte er noch in seinen letzten Jahren seinem treuen Pfleger Wasianski "mit fast poetischer Malerei, die er sonst in seinen Erzählungen vermied", gern von der Zeit, die er öfters auf Wohnsdorf, dem Rittergute der Familie von Schroetter, bei Friedland an der Alle zugebracht hatte; wie sie dann, er mit seinem Gastherrn und dem General von Lossow, an schönen Sommervormittagen in einer noch heute dort als Kantlaube gezeigten Gartenlaube an dem hohen Ufer des Flüßchens bei Kaffee und Tabak gesessen hätten. Man sieht: er war mit wenigem zufrieden. Er fühlte sich dort besonders wohl, weil er da ganz wie zu Hause, nach eigenem Gefallen leben konnte, und so war dies das einzige Haus in weiterer Entfernung von Königsberg, das er "sehr oft" und "auf mehrere Tage", anscheinend auch noch in seinen späteren Jahren, besuchte. In der Nähe der Stadt dagegen lag sein vielleicht liebster Aufenthaltsort überhaupt: das etwa eine Meile nördlich von Königsberg entfernte Forsthaus Moditten, mitten im Walde gelegen, der sich auf dieser Seite damals noch bis vor die Tore der Stadt hinzog. Im Forsthause selbst wohnte Kants Freund, der Oberförster Wobser, gleich den meisten seiner Berufsgenossen ein Mann von großer Natürlichkeit, gesundem Verstand und wackerem Herzen. Bei ihm hielt sich Kant während der Universitätsferien öfters sogar, was bei ihm viel heißen wollte, länger als eine Woche auf. Dort, in der Stüle des Waldes, schrieb er 1764 seine dem größeren Publikum damals wohl bekannteste Schrift, die allgemeinverständlichen und geistreichen 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen'. Hier konnte er unter "hohen Eichen und einsamen Schatten" sogar schwärmen von der "ruhigen Stüle eines Sommerabends", wenn "das zitternde liebt der Sterne durch die braunen Schatten der Nacht hindurchbricht und der einsame Mond im Gesichtskreise steht" und ihn "allmählich in hohe Empfindungen zog von Freundschaft, von Verachtung der Welt, von Ewigkeit". So hat auch der für nüchtern geltende Kant der Zeit des Gefühls und der Empfindsamkeit seinen Tribut bezahlt. Noch heute zeigt man dem Besucher die Giebelstube des jetzt in eine ländliche Restauration umgewandelten Forsthauses, in welcher der Philosoph gewohnt, die alte Linde, in deren Hochsitz er gesessen, unter deren Schatten er seine Schrift geschrieben haben soll. Nicht weit davon hat man eine schöne Aussicht über das Pregeltal bis zu dem fernen Haffe hin. Der wackere Wobser aber, der lange vor ihm starb, blieb ihm so unvergeßlich, dass er bei der Erinnerung an ihn noch in seinen letzten Lebensjahren warm und lebhaft werden konnte.

Endlich zog Kant auch die begabtesten unter seinen Zuhörern zu gelegentlichem Verkehr mit sich heran, öfters geschah es in diesen seinen jüngeren Jahren, dass er nach dem letzten Vormittagskolleg einen oder zwei Studiosen zu einem gemeinsamen kleinen Spaziergang aufforderte. Von seinem Verhältnis zu einzelnen, wie Herder, wird noch besonders zu reden sein. Und er muß bei der Studentenschaft nicht bloß als geistvoller Lehrer, sondern auch als Kenner feinerer Sitte geschätzt gewesen sein; gerade er sollte, wie Hamann im April 1764 an Lindner schreibt, bei dem Leichenbegängnis des von den Studierenden ebenfalls sehr geschätzten Professors der Rechte Dr. Funk "das Gepränge veranstalten". Ob er infolge aller dieser im Vorigen geschilderten geselligen Beziehungen zeitweise wirklich "durch einen Strudel gesellschaftlicher Zerstreuungen fortgerissen" war, wie der nämliche, seinerseits freilich ganz abseits vom Strome der Königsbeiger Geselligkeit lebende Hamann, phantasiereich wie immer, behauptet, wollen wir dahingestellt sein lassen. Spricht dieser doch in dem gleichen Briefe (vom 1. Februar 1764) von den zahlreichen schriftstellerischen Arbeiten und Plänen, die der "kleine Magister" damals in seinem Kopfe trug, und die er, wie wir bald sehen werden, zum größten Teil auch ausgeführt hat; und entfaltete der nämliche fleißige Magister doch gerade in den 60er Jahren eine besonders reiche Vorlesungstätigkeit. Immerhin, wenn man bloß nach der Außenseite urteilte, wenn man sah, wie er, alle Pedanterie und alle Gelehrtenzopfigkeit verachtend, gern und gewandt sich in allen Kreisen bewegte, mochte man ihn wohl den "galanten" Magister nennen. Dass jedoch hinter dieser weltmännischen Außenseite sich, den meisten verborgen, eine reiche und tiefgehende innere Entwicklung vollzog, werden wir jetzt sehen.

 

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*) Nach brieflichen Mitteilungen von Herrn Prof. Saltznnnn-Pillau an Prof. A. Rosikat-Königsberg.


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