Die 'Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen' (1764)


Zeigten uns die soeben charakterisierten vier Schriften aus den Jahren 1762—1764 den durch Hume und die englischen Moralphilosophen stark beeinflußten wissenschaftlich-philosophischen Standpunkt Kants um jene Zeit, so sind für das Verständnis seiner Persönlichkeit von unmittelbarerer Bedeutung die in der Waldesluft von Moditten niedergeschriebenen, Ende 1763 oder Anfang 1764 veröffentlichten 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen'. Hier haben wir einen ganz anderen Kant vor uns als den heute dem größeren Publikum bekannten. Schon in der äußeren Form. Hier schreibt er in kurzen, leicht verständlichen Sätzen, anmutig, witzig, geistreich, ja poetisch, so dass der an die Lektüre der schwierigen kritischen Hauptwerke gewöhnte Schiller sogar den Stil "für die ernsthafte Materie etwas zu spielend und blumenreich" fand (an Goethe, 10. Februar 1795). In der "mehr mit dem Auge eines Beobachters als des Philosophen" rasch hingeworfenen Schrift herrscht dieselbe heitere Laune, praktische Menschenerfahrung und ausgebreitete Literaturkenntnis, welche die Zuhörer seiner populären Vorlesungen damals und später fesselte. Der angeblich aller Poesie abholde Philosoph berücksichtigt hier von den Epikern die Homer und Vergil ebenso wie die Milton und Klopstock, den melancholischen Young und den ernsten Haller ebenso wie die anakreontischen und Schäfergedichte seiner Zeit, die sein männlicher Geschmack mit Recht "gemeiniglich sehr nahe beim Läppischen" findet, von den französischen Feenmärchen zu schweigen, als den "elendesten Fratzen, die jemals ausgeheckt wurden"; er kennt den Sittenschilderer der Feder Labruyère ebensogut wie den des "Grabstichels", den Engländer Hogarth. Das rechte Verständnis für die Schönheit der Volksdichtung fehlt ihm freilich durchaus: gegenüber dem "Edlen" der Äneis fällt Homer (wie Milton) seiner Ansicht nach "ins Abenteuerliche"! Bezeichnend ist auch die Art seines Naturgefühls. Dem Sohn der Tiefebene erregt der bloße Gedanke an ein Gebirge, "dessen beschneite Gipfel sich über Wolken erheben", zwar auch ein Wohlgefallen, aber "mit Grausen" vermischt, wogegen "blumenreiche Wiesen, Täler mit schlangelnden Bächen, bedeckt von weidenden Herden" fröhlichangenehme Empfindungen in ihm erwecken.

Übrigens sind die 'Beobachtungen' im Grunde weniger ästhetischen als moral-psychologischen Inhalts. "Die Ausführung ist bloß anthropologisch, und über* die letzten Gründe des Schönen lernt man darin nichts," schrieb schon Schiller 19. Februar 1795 an Goethe. In der Weise der englischen Moralisten wie Hutcheson, Burke und Shaftesbury werden moralische und ästhetische Betrachtungen miteinander verbunden. Das Erhabene und das Schöne werden zunächst "am Menschen überhaupt", sodann an den beiden Geschlechtern, endlich an den verschiedenen Volkscharakteren aufgesucht. Was man gewöhnlich als Kennzeichen Schillerscher Anschauungsweise in angeblichem Gegensatz zur Kantischen ansieht, die Wertschätzung der sittlichen Schönheit gegenüber sittlicher Erhabenheit,*) findet sich bereits hier. Weitere Keime der kritischen Ethik zeigen sich darin, dass Mitleid, Gutherzigkeit und Gefälligkeit mit Recht moralisch geringer bewertet werden als wahre "Wohlgewogenheit" und strenge Gerechtigkeit. "Wahre Tugend kann nur auf Grundsätze gepfropft werden." Freilich, diese Grundsätze bestehen ihm damals noch — darin ist er mit Rousseau, Shaftesbury und Hutcheson einverstanden — in dem Bewußtsein eines Gefühls: desjenigen von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur. In der anziehenden Schilderung der vier Temperamente hat man die Vorliebe, mit welcher der Melancholiker (gemäßigterer Art) geschildert wird, auf die Verwandtschaft mit Kants eigener Art zurückführen wollen, und gewiß stimmen dazu viele Züge der ausführlichen und fesselnden Charakteristik, die man an Ort und Stelle nachlesen mag. Im allgemeinen neigt Kant sicherlich mehr zum Erhabenen als zum Schönen: er ordnet, wie sein "Melancholiker", seine Empfindungen unter Grundsätze, nichts Menschliches ist ihm fremd (dies Terenz-Wort war eines seiner Lieblingssprüche), er haßte sein Lebtag alle Ketten "von den vergoldeten des Hofes bis zu den Eisen der Galeerensklaven", ist ein strenger Richter seiner selbst. Einzelne Züge stimmen jedoch wieder nicht, wie z. B. für den heiter-gesprächigen Weisen, als der er uns von allen, die ihn kannten, geschildert wird die gedankenvolle Schweigsamkeit, geschweige denn die wenigstens dem "ausgearteten" Melancholiker beigelegten Eigenschaften der Schwermut, Schwärmerei und Rachbegierde.

Von seiner anziehenden Charakteristik des weiblichen Geschlechts ist schon in dem Abschnitt "Kant und die Frauen" die Rede gewesen. Nicht weniger interessant sind die Streiflichter, die auf den Charakter der hervorragendsten europäischen Nationen fallen, sofern sie "erhabene" oder "schöne" Züge aufweisen; worauf zum Schluß auch ein Blick auf die außereuropäischen Völker, darunter die "Japaneser, Chineser und Negers" geworfen wird. Seine Vorliebe für die Lektüre von Reisebeschreibungen kam ihm hier zu statten. Bemerkenswert für die Schwäche und Einseitigkeit seiner historischen und kunstgeschichtlichen Auffassung, die er mit den meisten Vertretern der Aufklärungszeit gemein hat, ist die überaus abfällige Beurteilung des Mittelalters, das ihm ein Machwerk von '"Barbaren" ist, die "einen gewissen verkehrten Geschmack einführten, den man den gotischen nennt, und der auf Fratzen hinauslief": Fratzen in der Baukunst, in den Wissenschaften und Sitten, im Rittertum und Mönchtum, von denen sich das menschliche Genie dann in der Renaissance oder, wie Kant es griechisch wiedergibt, durch eine Art von "Palingenesie" (= Wiedergeburt) glücklich wieder erhob. Wir werden auf Kants Kunstansichten noch in einem Kapitel des 3. Buches zurückkommen und sehen daher hier von weiterer Stellungnahme ab. Zu seinem besonders seit den 70er Jahren betätigten Interesse für die Erziehungsreform den Auftakt bildet der Schlußgedanke des ganzen Werkchens: es komme jetzt vor allem darauf an, "dass das noch unentdeckte Geheimnis der Erziehung dem alten Wahne entrissen werde, um das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer tätigen Empfindung zu erhöhen".

Wir konnten nur eine Blütenlese aus der populärsten aller selbständigen Schriften des Philosophen geben, die viel gelesen wurde und bis 1771 zwei weitere Auflagen erlebte. Sie war u. a. ein Lieblingsbuch Herders, derentwegen er neben Mendelssohn und Sulzer, Winckelmann und Burke auch Kant zu den ästhetischen Autoritäten zählte; Stellen daraus waren seinem Gedächtnis immer gegenwärtig. Hamann stellte sie in einer ausführlichen Besprechung Diderots Artikel über das Schöne in der Enzyklopädie zur Seite. Ein anderer Rezensent verglich den Verfasser mit dem vielgelesenen französischen Charakterschilderer Labruyère; ein dritter meinte: sie gehöre nicht bloß in das Studierzimmer der Gelehrten, sondern auch auf die Toilettentische der Damen! Den letzteren gegenüber hatte sich allerdings der "galante Magister" besonders liebenswürdig bewiesen. Sogar seinen verehrten Rousseau desavouierte er in diesem Falle wegen dessen "verwegener" Behauptung: dass ein Frauenzimmer niemals etwas mehr als ein großes Kind werde; er selbst möchte "um wer weiß nicht wie viel" so etwas nicht gesagt haben! Unserem heutigen Geschmack dagegen wird ja die kleine Schrift von 1764 mehr zopfig vorkommen. Der Mann von Welt kann doch die Gelehrtenstube nie ganz verleugnen, wie denn auch schon Hamann bei aller Anerkennung meinte, dass der Herr Magister eine "besondere Fruchtbarkeit lebhafter Einfälle einesteils exempelreichen, teils scholastischen (!) Witzes zeige". Wir finden feine und geistreiche oder, wie Goethe sagt, "allerliebste" Bemerkungen genug, aber wir sehen niemals die Leidenschaft aufflammen, wie wir es bei dem neuen Geschlecht der 60er und noch mehr der 70er Jahre finden. Die Schrift gehört, wie der literarisch-ästhetische Geschmack Kants überhaupt, eben noch der älteren Zeitrichtung an. Genug: wie durch seine Preisschrift in der gelehrten Welt, wurde Magister Kant durch die 'Beobachtungen' auch im größeren Publikum bekannt. Er galt seitdem für einen der namhaftesten Popularphilosophen. So nennt z. B. der junge Goethe in einer Rezension für die 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen' (1773) als die vornehmsten deutschen Weltweisen seiner Zeit: Sulzer, Kant, Mendelssohn und Garve.

Wie stark er damals mit schriftstellerischen Plänen schwanger ging, ergibt sich aus dem schon erwähnten Briefe Hamanns an Lindner vom 1. Februar 1764. Kant habe, so schreibt dort Hamann, "eine Menge Arbeiten im Kopfe": ein Werk über die "Sittlichkeit", den "Versuch einer neuen Metaphysik", einen "Auszug seiner Geographie" und dazu noch "eine Menge kleinerer Ideen", von denen auch Hamann, damals vorübergehend Redakteur der 'Königsbergschen Gelehrte und Politische Zeitungen', "zu gewinnen hoffte"; sogar eine Zeitschrift unter dem Titel 'Magazin' beabsichtige Kant herauszugeben. Freilich zweifelte der Briefschreiber stark daran, ob der Magister alle diese Vorsätze auch werde ausführen können. Sollen wir es bedauern, dass Kant diese mannigfachen Pläne, insbesondere den des 'Magazins', zu dem er vielleicht durch seinen allezeit unternehmungslustigen Verleger und Hauswirt Kanter angestachelt worden ist, wieder "ausgesetzt", d. h. verschoben hat, und dass er dann nachher nicht mehr dazu kam? Ich denke, nein! Denn nur durch seine allmählich immer strenger durchgeführte Vermeidung geistiger Zersplitterung und Kleinarbeit ist ihm die Konzentration auf seine wissenschaftliche Lebensaufgabe möglich geworden.

 

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*) Ich habe dies Problem näher verfolgt in meinen Aufsätzen über 'Ethischen Rigorismus und sittliche Schönheit' in Philos. Monatshefte 1894, jetzt in meinem Buche: 'Kant, Schiller, Goethe' (2. Aufl., 1922), bes. S. 90 ff.


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