Seelische Stimmungen


An den äußeren und inneren Verhältnissen der Königsberger Professorenschaft hatte sich während der acht Jahre, die zwischen seinem Abgang als Studiosus und seinem Wiedereintritt in den akademischen Körper lagen, wenig oder nichts geändert. Innere Anteilnahme und wissenschaftliche Anregung fand er, zumal da Knutzen nicht mehr lebte, unter seinen Kollegen nur bei sehr wenigen: eher wohl neidische Gegner, die sich durch ihn verdunkelt sahen. Wenn ein Menschenalter später Goethe über das "Hetzen, Werben, Kompromittieren" der Jenaer Professoren, ihren "pfäffischen Stolz" und ihre "verworrene Borniertheit" unwillig sich äußerte, so wird es an der noch beschränkteren und isolierteren Königsberger Akademie der 50er und 60er Jahre kaum besser gewesen sein. So spottet nicht bloß der geistreiche Hamann öfters über die kleinlichen Rivalitäten und Schikanen wie über den Hochmut der Königsberger Professorenkreise, sondern auch zahlreiche Äußerungen in Kants eigenen Schriften über Gelehrteneinbildung und -pedanterie lassen sich ohne üble persönliche Erfahrungen kaum erklären. Er aber wirkte rein durch die Sache. So schreibt Hamanns Bruder am 16. März 1757 an G. E. Lindner: "Herr Magister Kant lebt glücklich und zufrieden, in der Stille wirbt er die Zuhörer des marktschreierischen Watson und schwächt durch seinen Fleiß und echte Gelehrsamkeit den scheinenden Beifall dieses Jünglings."*) Neben frohen und erhebenden Stunden — er bekennt selbst später, er habe in jenen ersten Magisterjahren den "ganzen Stolz des Gelehrten in sich gefühlt" — hat Kant indes sicherlich auch trübe durchgemacht, von denen er freilich die Außenstehenden nichts merken ließ. In die Welt seines inneren Gefühls, die uns hierüber aufklären müßte, und die bei so vielen anderen Großen der Menschheit in Briefen oder Selbstbekenntnissen offen vor uns liegt, läßt seine Eigenart uns nur äußerst selten einen Blick tun. Es hindert ihn daran eine merkwürdige Verschlossenheit oder mindestens Kühle des Sichgebens gegenüber anderen, die durchaus nicht identisch ist mit Unbewegtheit des Gemüts, sondern eher von einer Keuschheit des Gefühls herrührt, wie sie der norddeutschen Natur häufig eigen ist. So hat uns denn bloß der glückliche Zufall eines erst neuerdings aufgefundenen Briefes einen Einblick in das Innenleben des "kleinen Magisters", wie Hamann ihn zu nennen pflegte, gewährt und gezeigt, dass er doch nicht der völlig leidenschaftslose, kühle Verstandesmensch gewesen ist, für den man ihn oft gehalten hat. Am 28. Oktober 1759, also nach vier Jahren Privatdozententums, beglückwünschte er seinen Freund und späteren Kollegen, den damaligen Gymnasiallehrer Lindner in Riga, dass dieser sich bei der ihm dort zuteil gewordenen Anerkennung hinwegsetzen könne, "über die elenden Buhlereyen um den Beyfall und die abgeschmakte [sic!] Einschmeichelungs Künste", die in Königsberg "großthuerische kleine Meister, die höchstens nur schaden können, denen auferlegen, welche gerne ihre Belohnung verdienen und nicht erschleichen möchten". Das muß auf jene mißgünstigen und marktschreierischen Kollegen gehen, die er als geistig unter ihm stehend empfand. Und auch seine Vorlesungen vermögen ihn nicht von einem Gefühl der Bitterkeit und inneren Leere zu befreien. Wiederholte sich doch der Stoff immer wieder, und waren seine Zuhörer doch vielfach erst Jüngel-chen von 16, ja 15 Jahren, so dass gerade ein tiefer Denker wie er oft genug das faustische Gefühl empfunden haben wird:

"Das Beste, was Du wissen kannst,

Darfst Du den Buben doch nicht sagen."

"Ich meines Theils sitze täglich vor dem Ambos meines Lehrpults und führe den schweren Hammer sich selbst ähnlicher Vorlesungen in einerley tacte fort." Manchmal zieht ihn innere Neigung zu erhebenderer Beschäftigung: "bisweilen reizt mich irgendwo eine Neigung edlerer Art, mich über diese enge Sphäre etwas auszudehnen." Aber — "der Mangel, mit Ungestühmer Stimme sogleich gegenwärtig mich anzufallen und immer wahrhaftig in seinen Drohungen, treibt mich ohne Verzug zur schweren Arbeit zurück". Indes, er will von niemandem, auch von den Freunden nicht, bemitleidet sein. Und so fährt er fort: in Anbetracht des Ortes, wo er sich befinde — er hängt an seiner Heimat — und der "kleinen Aussichten des Überflusses", die er sich erlaube, begnüge er sich schließlich mit dem Beifalle, mit dem man ihn begünstige, und mit den Vorteilen, die er daraus ziehe, um die ganze, sowieso schon ausnahmsweise Expektoration mit einem Worte zu schließen, das ich ähnlich in keiner seiner sämtlichen Schriften und Briefe gelesen zu haben mich erinnere, und das man jedem anderen eher zutrauen würde als gerade ihm: und — "träume mein Leben durch". Gewiß nicht immer, ja vielleicht nicht einmal häufig, wird Kants Selbstbeherrschung sich solchen melancholischen und doch wieder mit einem überlegenen Humor gepaarten Stimmungen überlassen haben; aber es ist doch bezeichnend, dass selbst bei einer so kühlen und verstandesklaren Natur wie Kant Stunden nicht gefehlt haben, wie sie keinem Genie erspart bleiben, das sich mit den Armseligkeiten und Kleinlichkeiten seiner Umgebung abfinden muß.

 

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*) In einem Briefe, der mir durch die Güte von A. Warda, des Herausgebers der Hamann-Briefe in der Akademie-Ausgabe, zugänglich gemacht worden ist.


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