Äußere Lebensweise
Kehren wir von diesem Exkurs zu des Philosophen äußerem Leben während der 60er Jahre zurück. Wie wir sahen, wählte er seinen Umgang am liebsten unter Nicht-Fachgenossen. Denn er haßte die Gelehrten-Pedanterie ebensosehr wie das Cliquenwesen, das sich so leicht in abgeschlossenen Berufskreisen bildet. Er hat sich auch Zeit seines Lebens nie an offizielle Gelehrte Gesellschaften, deren mehrere in Königsberg bestanden, oder an Geheimbünde, wie der Freimaurer-Orden, angeschlossen, obwohl eine Anzahl seiner nächsten Bekannten dazu gehörten. Er verkehrte vielmehr mit gebildeten Männern und Jünglingen der verschiedensten Stände. Auch darf man sich die äußere Lebensweise des Magisters Kant keineswegs so streng nach der Uhr geregelt vorstellen, wie die des späteren Professors. Nachdem er seine Vormittag-Vorlesungen beendet, ging er gern in ein Kaffeehaus, um eine Tasse Tee zu trinken, unterhielt sich dabei über die Ereignisse des Tages oder spielte sein beliebtes Billardspiel. Mittags speiste er in einem guten Gasthaus an offener Tafel, falls er nicht, was oft genug vorkam, von privater Seite zu Tisch geladen war; er vermied dabei alle gelehrte Unterhaltung. Auch die Abende verbrachte er damals noch häufig im Gasthaus oder in Privatgesellschaften in angenehmem Gespräch oder nicht ungern beim L'Hombre, das er, wie wir uns erinnern, schon von seiner Studentenzeit her gut spielte, und das er für eine nützliche Übung nicht bloß des Verstandes, sondern auch in der Selbstbeherrschung und zugleich als das "einzige sichere Mittel, den Kopf von angestrengtem Denken abzuziehen und zu beruhigen" erklärte. Später gab er es auf, weil ihm die Mitspieler zu langsam spielten und er auch die Unterhaltung und den Verkehr mit Männern wie Green jenem bloßem "Notbehelf" vorzog. Ja, der heute von vielen als rigoristisch verschriene Denker konnte sogar — und in gewissem Sinne gilt dies für ihn bis in sein Alter hinein — recht seßhaft und trinkfest sein! Abegg hörte 1798 in großer Abendgesellschaft zu Königsberg den Kriegsrat Deutsch in dieser Beziehung ein nettes Stückchen erzählen, das uns den großen Philosophen auch einmal mit einer menschlichen Schwäche behaftet zeigt: "Kant konnte (nach Tisch) bis abends 7—8 Uhr sitzen bleiben und unterhalten, wenn nur jemand bei ihm blieb. Er war überaus munter, trank gerne Wein, so wie unser einer, und erzählte gar lustig, wie er einmal — das Loch in die Magistergasse nicht haben finden können" [mit dem "Loch" war vermutlich einer der engen Zugänge in diese heute noch ziemlich gut erhaltene Gasse vom Pregel aus gemeint; da er sie in der ersten Hälfte der 60er Jahre bewohnte, so muß die kleine Extravaganz in diese Jahre fallen]. Auch dem Besuch von Konzert und Schauspiel — seit 1755 besaß Königsberg ein ständiges Theater — war er in jener Zeit noch nicht abhold: so dass er manchmal erst um die mitternächtige Stunde nach Hause kam, während er seinen Grundsatz regelmäßigen Frühaufstehens trotzdem durchführte.