Vorlesungen


In seiner Magisterzeit hatte sich Kant, was die Zahl seiner Kollegien betrifft, um des Broterwerbs willen häufig zu viel zugemutet (vgl. S. 144). Und noch als designierter Professor im Sommersemester 1770 las er nicht in weniger als 22 Wochenstunden über fünf verschiedene Gegenstände. Er fühlte sich denn auch diesen ganzen Sommer über sehr unpäßlich (an Lambert, 2. September 1770) und merkte es an seinem Körper sehr, als nach den kurzen Ferien schon in der zweiten Augusthälfte die "überhäufte Last der Kollegien" wieder einsetzte (an Herz, 31. August 1770). Er beabsichtigte deshalb auch künftig diesen Teil seiner Arbeit etwas einzuschränken. Immerhin hat er doch auch in den 70er Jahren gewöhnlich vier Kollegien oder drei Kollegien und ein Disputätorium oder Repetitorium, im Durchschnitt etwa 14 Wochenstunden, gelesen. Nur selten wohl kam, wie im Sommer 1773 einmal, ein Kolleg wegen zu geringer Zuhörerzahl nicht zustande. Um genügend freie Zeit für seine eigenen Studien zu bekommen, legte er jetzt seine Vorlesungen — und zwar Sommers wie Winters — in die frühesten Morgenstunden, von 7—9 oder 7—10.

Zu seinen bisherigen Kollegien kamen solche über Natürliche Theologie (seit 1774), Pädagogik (1776/77) und vor allem Anthropologie (1772/73) hinzu. Seine Vorlesung über Metaphysik arbeitete er in diesem für seine philosophische Entwicklung (vgl. folgendes Kapitel) grundlegenden Jahrzehnt in einem Sinne um, der von "seinen vormaligen und den gemein angenommenen Begriffen" stark abwich. Es war daher für einen Anfänger, wie Kant selbst gesteht, schwer, mitzukommen (an Herz, 28. August 1778). Der junge Ludwig von Baczko verstand sie deshalb auch nicht und suchte nun durch nächtelanges Studieren von Kompendien dem Verständnis näher zu kommen, sah aber bald, dass manche Zuhörer noch weniger verstanden wie er, und fing deswegen an zu glauben, "dass die Leute in Kants Vorlesungen liefen, um sich ein Ansehen zu geben". Anderen ging es besser. So erzählt Reichardt, der bekannte Komponist: "Auch seine Vorlesungen über abstrakte Philosophie erhielten durch jenen Schatz von Erläuterungen und Beispielen, die ihm sein Gedächtnis darbot, große Klarheit und Deutlichkeit", im Unterschied von seinen Schriften, die "vielen wohl immer dadurch so dunkel und schwierig geblieben sind, weil er den Lesern philosophischer Schriften zu viel zutraute, als dass er jene hinzuzufügen für nötig erachten sollte". Besser verstand Baczko Kants Vorlesungen über Naturrecht und Moral; namentlich letztere fesselte seine Aufmerksamkeit.

Das weitere Publikum fand sich vor allem durch die im Winter 1772/73 von ihm angefangenen Vorlesungen über Anthropologie angezogen. Sein Kolleg über Physische Geographie genügte ihm auf die Dauer nicht mehr zum Ausdruck derjenigen außerhalb der strengen Philosophie liegenden Gedanken, die sich auf die innere Natur des Menschen bezogen. So führte er denn neben der ständigen geographischen Sommer-Vorlesung ein zweites "auf Weltkenntnis abzweckendes" Kolleg ein, das, wie jenes erstere die Natur, seinerseits den Menschen behandeln sollte: eben die "Anthropologie", die er fortan jeden Winter las. Er wollte dadurch die "Quellen aller Wissenschaften, der Sitten, der Geschicklichkeiten, des Umganges, der Methode, Menschen zu bilden und zu regieren, mithin alles Praktischen" eröffnen (an Herz, Ende 1773), wie sie denn auch einen Abschnitt über Pädagogik enthielt. Er beobachtete, wie er selbst sagt, "unablässig" das gemeine Leben, um seine Zuhörer nicht bloß zu belehren, sondern auch anzuregen. Das Kolleg über "Menschenkunde" zählte daher bald zu seinen beliebtesten Vorlesungen und wurde, außer von den Studierenden, auch von Gebildeten aller Stände (Offizieren, Regierungsräten usw.) besucht.

Sein vertrauterer Verkehr mit einzelnen Studierenden nahm jetzt stark ab. Er wurde nicht bloß älter, sondern mußte auch seines großen Werks wegen seine Zeit immer mehr zu Rate halten. So hatte er denn, wie er gegen Ende 1778 Herz schreibt, unter den Hörern seiner "öffentlichen" Kollegien "fast gar keine Privatbekanntschaft". Eher konnte er in dem jetzt eifriger von ihm gepflegten Disputatorium oder Examinatorium bzw. Repetitorium, das er meist Mittwoch und Samstag von 7—8 Uhr früh abhielt, die Teilnehmer persönlich kennenlernen, wie sie ihn. Auf diese Weise gelangte auch der junge Kraus dazu, der, 1753 geboren, seit Herbst 1770 in Königsberg studierte und schon alle Vorlesungen Kants gehört hatte, ohne ihm doch, wie sein sehnlichster Wunsch war, persönlich näher zu treten. Da wurde er Mitglied des "Disputatoriums" und machte hier einst, seine gewöhnliche Schüchternheit überwindend, dem Philosophen so tief durchdachte Einwürfe, tat so scharfe Fragen, dass Kant ihn nach der Stunde zu sich rief, um ihn genauer kennen zu lernen und von nun an nähere Beziehungen begannen: indem der Professor ihn nicht bloß philosophisch förderte, sondern sich auch für seine persönliche Lage interessierte und ihm u. a. die "Führung" eines jungen kurischen Barons verschaffte, der mit ihnen beiden in demselben Hause wohnte.


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