Charakter der naturwissenschaftlichen Schriften
Das Verdienst und das Charakteristische von Kants naturwissenschaftlichen Schriften und Ideen besteht überhaupt nicht in der Feststellung von Einzelergebnissen oder in exakter mathematischer Begründung und Berechnung, die in der Regel überhaupt fehlt oder auch gelegentlich in die Irre geht, sondern im Erfassen und Verkünden neuer, fruchtbarer, geistvoller, zum Teil genialer Leitgedanken, denen die von anderen übernommenen Einzeltatsachen und -gedanken sich unterordnen, kurz im eigentlich Philosophischen. "Mit seltener Kraft der Intuition durchdringt er die Natur und sucht überall nach großen, durchgehenden Gesetzmäßigkeiten: so entdeckt er bald hier, bald dort verborgene Fäden des Zusammenhanges" und "vermag Wirkungen wahrzunehmen, an denen andere gebundenen Auges vorübergehen", "entdeckt in dem längst Bekannten ganz neue Seiten", "stiftet zwischen scheinbar Fernliegendem überraschende Verbindungen" (Adickes, a. a. O. S. 52, 53). Und wie die Kraft der Synthese, die in seiner Kosmogonie zur Herstellung eines großartigen Gesamtbildes führte, sich, obschon in vermindertem Grade, auch in seinen Fragmenten zu einer Naturgeschichte der Erde offenbart, so tritt uns auch die andere wichtige Seite der dortigen Untersuchung hier wiederum entgegen: die Abgrenzung der Wissenschaft gegen Theologie und falsche Teleologie.
Gewiß kommen auch in diesen Aufsätzen, namentlich soweit sie aus der vorkritischen Periode stammen, teleologische Wendungen von der von der Vorsehung beabsichtigten "Ordnung", "Schönheit", "Nützlichkeit" der Natureinrichtungen vor. Dagegen macht sich der Philosoph von Anfang an über jene grobe Art von Zweckbetrachtung lustig, die z. B. von dem Erscheinen der Kometen oder bestimmter Planeten allerlei Unheil für die Erdenbewohner befürchtet; von solchen Grillen habe Newton glücklicherweise die Naturwissenschaft "gesäubert". Selbst anscheinend so regellose Ereignisse wie die Erdbeben gehen auf mechanische Naturgesetze zurück. Gott steht wohl hinter ihnen, greift aber nicht in sie ein. Auch moralische Betrachtungen werden, zumal wenn es sich um ein so verführerisches Thema wie das Erdbeben von Lissabon handelt, nicht ganz ausgeschlossen. Aber sie beschränken sich doch im wesentlichen auf den vernünftigen Gedanken: solche traurigen Ereignisse sind keine göttlichen Strafgerichte, sollen vielmehr uns nur demütig stimmen und daran erinnern, dass der Mensch "nicht geboren ist, um auf dieser Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu bauen", und uns von dem "sträflichen Vorwitz" abhalten, als vermöchten wir Gottes Ratschlüsse einzusehen und den Plan des Ganzen zu verstehen, von dem wir nur ein Teil sind. So ruhige Erwägungen, selbst wenn wir ihnen heute nicht mehr zustimmen, unterscheiden sich wie Tag und Nacht von den rührseligen, faden und breitmäuligen Moralsalbadereien seiner Zeit, von denen Adickes (a. a. O. S. 70 f.) zwei ergötzliche Beispiele gibt.
Auch auf die biblische "Offenbarung" nehmen nur die beiden frühesten Aufsätze, je einmal, Bezug. Ein aus seiner ersten Magisterzeit stammender Entwurf über die Geschichte der Erde in den ältesten Zeiten (Akad. Ausg. XIV, 572 ff.) betont schon: "Wenn wir die Geschichte der Erde physikalisch untersuchen wollen, so müssen wir uns desfalls nicht an die Offenbarung wenden." Die "Sündflut" wird in der "Physischen Geographie" zwar noch als wirklich angenommen, aber doch naturgeschichtlich umgedeutet, worin er übrigens nur Leibnizens Vorgang in dessen "Protogäa" folgte; sie wird, wie sich Adickes (S. 48) nicht übel ausdrückt, "eigentlich nur honoris causa aufgenommen und geduldet". Am unzweideutigsten sprechen sich die beiden spätesten, bereits der kritischen Epoche angehörenden Abhandlungen über das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft aus. Eine gesunde Naturwissenschaft wird sich keinerlei "verborgene Kräfte" zur Erklärung gewisser Erscheinungen ausdenken. Allerdings ist es unmöglich, eine absolut erste Ursache aller Naturveränderungen, beispielsweise der Sonnenhitze, anzugeben. Gleichwohl darf die Wissenschaft nicht aus Verzweiflung zu einer "unmittelbaren göttlichen Anordnung" als Erklärung ihre Zuflucht nehmen. Eine solche "muß zwar, wenn von Natur im ganzen die Rede ist, unvermeidlich unsere Nachfrage beschließen"; aber das befreit uns nicht von der "Verbindlichkeit, unter den Weltursachen zu suchen, soweit es uns nur möglich ist, und ihre Kette nach uns bekannten Gesetzen, so lange sie aneinander hängt, zu verfolgen" ('Über die Vulkane im Monde', Schluß).