Die Inaugural-Dissertation von 1770


Die Bedeutung dieser Dissertation innerhalb der philosophischen Entwicklung Kants ist von den Fachgelehrten lebhaft umstritten. Die einen (wie Paulsen) wollen in ihr bereits "die neue Philosophie in ihrer jugendlichen Gestalt", die "lang gesuchte neue Methode der Metaphysik" erblicken, rücken sie also ganz nahe an die Kritik der reinen Vernunft heran; während andere sie als noch durchaus vorkritisch ansehen. Gegen die erstere Annahme spricht schon die Tatsache, dass der Philosoph nach 1770 noch ein volles Jahrzehnt angestrengtester Geistesarbeit gebraucht hat, bis er seine neue Philosophie in der 'Kritik' veröffentlichte. Dass er selber sie anderseits jedoch auch nicht schlechtweg zu seinen vorkritischen, mit seiner späteren Denkart "nicht mehr einstimmigen" Schriften rechnet, geht aus dem Umstand hervor, dass er gelegentlich einer 1797 geplanten Herausgabe seiner kleineren Schriften schrieb: "... doch wollte ich wohl, dass nicht ältere als vor 1770 darin aufgenommen würden, so dass sie mit meiner Dissertation De mundi sensibilis usw. anfange" (an Tieftrunk, 13. Okt. 1797). Wir haben in ihr eben eine Vorstufe der Vernunftkritik zu sehen. Von ihr nahmen alle die "mannigfaltigen Untersuchungen" ihren Anfang, deren "Ausschlag" die Kritik bildete (K. an Herz, 1. Mai 1781).

Wichtige neue Ansätze in der Richtung des Kritizismus sind jedenfalls in ihr vorhanden. Die sinnliche Wahrnehmung wird, gegen Leibniz und seine ganze Schule, nicht mehr als dunkle und "verworrene" Erkenntnis der "deutlichen" des Verstandes entgegen, sondern als selbständiges Prinzip neben die letztere gestellt. Als ihr "Urbild" erscheint ferner bereits die Geometrie, die den Raum wissenschaftlich behandelt, wie die Mechanik die Zeit, die Arithmetik die Zahl. Weiter: Raum und Zeit sind keine abstrahierten Begriffe mehr, sondern Formen der sinnlichen Anschauung, denen als Stoff die Empfindung gegenübersteht. Die Form aber besteht in der Zusammenordnung des Mannigfaltigen in einem "Gesetz der Seele", einem "inneren Prinzip des Geistes". Mithin bietet auch die Sinnenerkenntnis "durchaus Wahrheit" und widerlegt den falschen "Idealismus", der alle Sinnenwahrnehmung für bloßen Schein erklärt. Noch wichtiger: die Methode wird als dasjenige hervorgehoben, das in der reinen Philosophie "aller Wissenschaft vorausgeht", ja sie erst erzeugt. Vergesse man das — und es sei bisher immer vergessen worden —, so wälze man in alle Ewigkeit den Stein des Sisyphus (§ 23). Als der wichtigste methodische Grundsatz aber erscheint ihm eben jene schon durch den Titel gegebene strenge Scheidung zwischen sinnlicher und Verstandeserkenntnis: während man in der Regel, z. B. bei der Frage über den Sitz der Seele, beide heillos vermenge, so dass es aussieht, als ob "der eine den Bock melkt, der andere das Sieb unterhält" (dasselbe Gleichnis kehrt in der Kr. d. r. V. wieder). Auch des negativen Nutzens der Verstandesbegriffe, nämlich ihrer Aufdeckung von Scheinbeweisen, wird bereits kritisch gedacht.

In einer Reihe anderer Punkte ist dagegen der Standpunkt der Kritik noch keineswegs erreicht. Noch bleibt die sinnliche Wahrnehmung dem verstandesmäßigen Denken durchaus untergeordnet: sie erkennt die Dinge bloß, wie sie erscheinen, der Verstand dagegen, wie sie sind. Die Verstandesbegriffe werden bloß negativ, als unabhängig von den Formen der Anschauung, bestimmt, ja an einer Stelle nach der Weise der alten Metaphysik auf Gott als den Urgrund aller Dinge zurückgeführt. Ratsamer, als sich auf die hohe See solcher "mystischen" Anschauungen zu wagen, scheint es ihm freilich, sich an der Küste des unserem Verstande Erreichbaren zu halten (§ 22). Aber es wird doch noch ein realer Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe auch über Mathematik und Erfahrung hinaus behauptet. In Sachen der Ethik steht der Philosoph der kritischen Begründung insoweit schon nahe, als er jetzt ihre ersten Grundsätze durchaus zur "reinen", d. h. durch reine Vernunft erkennbaren Philosophie zählt und diejenigen, wie z. B. auch den von Herder bewunderten Shaftesbury, "scharf tadelt", die den sittlichen Maßstab im Gefühl der Lust und Unlust erblicken. Die Moralphilosophie beruht auf der Freiheit und dem Sollen, die theoretische auf dem Sein. Allerdings gilt als letztes Kriterium (§ 9) noch das von der kritischen Ethik abgewiesene Prinzip der Vollkommenheit.

Die Abhandlung, das Ergebnis einer mehrjährigen geistigen Arbeit, hatte nach außen hin wenig Erfolg. Mochte ihr Charakter als offizielle Universitätsschrift, die lateinische Sprache und der ziemlich trockene Stil einer weiteren Verbreitung hinderlich, mochte, wie Kant meinte, die Nachlässigkeit des Verlegers daran schuld sein, der nur wenige Exemplare nach auswärts verschickt und sie nicht einmal in den Meßkatalog hatte setzen lassen: sie fand zunächst nicht einmal eine Besprechung, und wir begreifen Kants Verdruß darüber, "dass diese Arbeit so geschwinde das Schicksal aller menschlichen Bemühungen, nämlich die Vergessenheit, erdulden müsse" (an Herz, 7. Juni 1771). Die einzige ihn zufriedenstellende — anscheinend erst Ende 1771 oder Anfang 1772 veröffentlichte — Rezension schrieb der in der Nähe von Königsberg amtierende Landpfarrer Johann Schulz, Kants späterer Kollege. Er erhielt deshalb von Kant schon damals den Titel des "besten philosophischen Kopfes, den ich in unserer Gegend kenne" (K. an Herz, 21. Febr. 1772), und ein Jahrzehnt später, mit einem Dedikations-Exemplar der Kritik d. r. V., das Lob, dass seine "Scharfsinnigkeit unter allen, die über die Inaug.-Dissert. geurteilt haben, die Trockenheit dieser Materie am besten durchdrungen und meinen Sinn am genauesten zu treffen gewußt" habe (K. an Schulz, 3. Aug. 1781). Schulz wurde später sogar zu einer Art offiziellem Interpreten des Kritizismus. Dagegen erfüllten Herz' 1771 bei Kanter erschienenen 'Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit', die nach dem Ausdruck ihres Rezensenten in der Allg. deutschen Bibl. "in Form eines Schreibens umständlicher vortrugen, was er (Herz) in Ansehung der Kantschen Prinzipien teils für sich verstanden, teils von seinem Lehrer gehört, teils auch selbst dabei anzuwenden gefunden", die von Kant gehegten Erwartungen nicht. Er fand diese "Copey" seiner Dissertation ebensowenig getroffen, wie sein eigenes Konterfei in dem nämlichen Heft der A. D. B. Noch unzufriedener war er mit den Besprechungen der Herzschen Schrift in der Göttinger und einer Breslauer "Zeitung". Wertvoller als "zehn solcher Beurteilungen mit leichter Feder" waren ihm die Einwände, die er von Lambert und Mendelssohn brieflich erbeten und erhalten hatte.

Das Wichtigste jedoch war: ihm selbst genügte die eigene Abhandlung schon bald nach ihrer Veröffentlichung nicht mehr. Er schiebt die Schuld zum Teil einer "langen Unpäßlichkeit", die ihn den ganzen Sommer 1770 über "mitgenommen" hatte, sowie der "Eilfertigkeit" zu, die durch die Notwendigkeit der Fertigstellung zu einem bestimmten Termin veranlaßt worden war. Er beabsichtigte daher im Winter 1770/71 einige Bogen hinzuzufügen, in denen er "die Fehler der Eüfertigkeit verbessern und meinen Sinn besser bestimmen" wollte (an Lambert, 2. Sept. 70). Allein Mendelssohns und namentlich Lamberts kritische Bemerkungen, und mehr als das die "innere Schwierigkeit" der Probleme bewogen ihn, diesen Plan aufzugeben und statt dessen ein ganz neues Werk ins Auge zu fassen, das den Titel 'Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft' tragen sollte; im Juni 1771 hofft er bald damit fertig zu sein (an Herz, 2. Juni 71). Es sollte ihm aber noch oft so gehen, wie er es schon in den 'Träumen eines Geistersehers' beschrieben hatte, und wie es gerade dem gewissenhaften Denker häufig ergeht: Vor seinen Augen "erhoben sich im Fortschritt der Untersuchung öfters Alpen, wo andere einen ebenen und gemächlichen Fußsteig vor sich sehen, den sie fortwandern oder zu wandern glauben".


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