Mathematik und Philosophie
Mathematik und Philosophie. § 1: „Die Mathematik gelangt zu allen ihren Definitionen synthetisch, die Philosophie aber analytisch.“ § 2: „Die Mathematik betrachtet in ihren Auflösungen, Beweisen und Folgerungen das Allgemeine unter den Zeichen in concreto, die Weltweisheit das Allgemeine durch die Zeichen in abstracto.“ § 3: „In der Mathematik sind nur wenige unauflösliche Begriffe und unerweisliche Sätze, in der Philosophie aber unzählige.“ § 4: „Das Objekt der Mathematik ist leicht und einfältig, der Philosophie aber schwer und verwickelt“, Nat. Theol. 1. Btr. (V 1, 118—125). „Der Gebrauch, den man in der Weltweisheit von der Mathematik machen kann, besteht entweder in der Nachahmung ihrer Methode oder in der wirklichen Anwendung ihrer Sätze auf die Gegenstände der Philosophie.“ Vorteilhaft ist bisher nur der zweite Gebrauch der Mathematik geworden. Die Metaphysik darf die mathematischen Begriffe nicht als Fiktionen ansehen, sondern muß sie für ihre Begriffe des Raumes, der Zeit, des unendlich Kleinen verwerten, Neg. Größ. Vorr. (V 1, 73 f.). Das Verfahren der Mathematik ist analytisch, das der Metaphysik synthetisch: erstere beginnt mit Definitionen, letztere endigt mit solchen, Nachricht v. d. Einricht. s. Vorles. 1765—66 (V 1, 154 f.).
Die Mathematik „gibt das glänzendste Beispiel einer sich ohne Beihilfe der Erfahrung von selbst glücklich erweiternden, reinen Vernunft“. Dieses Beispiel ist ansteckend; daher hofft reine Vernunft im transzendentalen Gebrauche sich ebenso glücklich erweisen zu können, als es ihr im mathematischen gelungen ist, wenn sie dieselbe Methode anwendet. Das führt zu einer (rationalistischen) „dogmatischen“ Philosophie. Aber die Methode der philosophischen Erkenntnis ist eine andere als die der Mathematik. „Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe. Einen Begriff aber konstruieren heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen.“ Zur Konstruktion (s. d.) eines Begriffes gehört also eine „nichtempirische“ (reine) Anschauung, die als solche „ein einzelnes Objekt“ ist, aber trotzdem „Allgemeingültigkeit für alle möglichen Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß“. „Die philosophische Erkenntnis betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen, gleichwohl doch a priori und vermittelst der Vernunft“, KrV tr. Meth. 1. H. 1. Abs. (I 599 f.—Rc 743 f.). Erstere betrachtet das Allgemeine „in abstracto (durch Begriffe)“, letztere das Allgemeine „in concreto (in der einzelnen Anschauung) und doch durch reine Vorstellung a priori“, ibid. (I 615—Rc 761). Die Philosophie urteilt „diskursiv nach Begriffen“, die Mathematik „intuitiv durch die Konstruktion des Begriffs“, ibid. (I 604—Rc 749). Die Mathematik unterscheidet sich nicht etwa dadurch von der Philosophie, daß sie bloß die Quantität, letztere bloß die Qualität zum Gegenstande habe. Nicht der Gegenstand, sondern die Form der (apriorischen) Erkenntnis ist in beiden verschieden. Auf „Quanta“ geht nur die Mathematik, weil nur der Begriff von Größen sich konstruieren, d. h. a priori in der Anschauung darlegen läßt. Qualitäten wiederum lassen sich nur in einer empirischen Anschauung darstellen; daher kann eine Vernunfterkenntnis derselben nur durch Begriffe möglich sein. „Übrigens handelt die Philosophie ebensowohl von Größen als die Mathematik, z. B. von der Totalität, der Unendlichkeit usw. Die Mathematik beschäftigt sich auch mit dem Unterschiede der Linien und Flächen als Räumen von verschiedener Qualität, mit der Kontinuität der Ausdehnung als einer Qualität derselben“, ibid. (I 600 f.—Rc. 745). Die Mathematik allein aber konstruiert Größen an der reinen Anschauung, von der geleitet sie durch eine Kette von Schlüssen zu völlig einleuchtenden und allgemeinen Problemlösungen gelangt (Geometrie). Die Algebra konstruiert nicht bloß Größen, sondern auch „die bloße Größe“ (Quantität); so in der Buchstabenrechnung. „Sie wählt sich alsdann eine gewisse Bezeichnung aller Konstruktionen von Größen überhaupt (Zahlen), als der Addition, Subtraktion usw., Ausziehung der Wurzel, und nachdem sie den allgemeinen Begriff der Größen nach den verschiedenen Verhältnissen derselben auch bezeichnet hat, so stellt sie alle Behandlung, durch die die Größe erzeugt und verändert wird, nach gewissen allgemeinen Regeln in der Anschauung dar.“ Mittelst einer „symbolischen Konstruktion“ gelangt sie, wie die Geometrie mittelst einer „ostensiven“ der Gegenstände selbst, dahin, wohin die diskursive Erkenntnis vermittelst bloßer Begriffe niemals gelangen könnte, ibid. (I 602 f.—Rc 747). In den mathematischen Aufgaben ist von der „Existenz“ der Gegenstände nicht die Frage, nur von den „Eigenschaften der Gegenstände“, ibid. (I 604—Rc 748 f.). Die mathematische „Vernunfterkenntnis“ unterscheidet sich von der philosophischen also durch die Möglichkeit der Konstruktion ihrer Begriffe in der reinen, formalen Anschauung, wodurch sie die Realität derselben a priori beglaubigt, da sie ihre Gegenstände ja selbst erzeugt. Jene Philosophie (Metaphysik), die nicht den Unterschied ihrer Methode von der mathematischen einsieht, ahmt diese nach und glaubt damit apriorische Erkenntnisse auch da zu gewinnen, wo die Möglichkeit zu ihr und ihrer Bewahrheitung fehlt — im Transzendenten. Mathematik und Philosophie sind aber „ganz verschiedene Dinge“, wenn sie auch in der Naturwissenschaft „einander die Hand bieten“ und ferner die „Möglichkeit der Mathematik“ in der „Transzendentalphilosophie“ gezeigt werden muß, ibid. (I 609—Rc 754 f.). Die Philosophie kann die Methode der Mathematik nicht nachahmen. Die Gründlichkeit der letzteren beruht auf Definitionen, Axiomen, Demonstrationen. Nur mathematische Begriffe lassen sich eigentlich definieren; denn nur diese Begriffe enthalten „eine willkürliche Synthesis..., welche a priori konstruiert werden kann“, und durch diese Definitionen wird der Begriff von dem Gegenstande ursprünglich gegeben. Philosophische „Definitionen“ sind nur „Expositionen“ gegebener Begriffe, mathematische Definitionen aber „Konstruktionen ursprünglich gemachter Begriffe“. In der Philosophie darf die Definition (Exposition) höchstens nur „zum bloßen Versuche“ vorangestellt werden, während in der Mathematik mit der Definition angefangen werden muß, weil hier kein Begriff vor der Definition besteht. Auch können mathematische Definitionen nie irren, weil durch sie erst die Begriffe gegeben werden; nur mehr oder weniger „präzis“ können sie sein, ibid. (I 611 ff.—Rc 756 ff.). Axiome, d. h. unmittelbar gewisse synthetische Grundsätze a priori, hat nur die Mathematik Die Grundsätze der Philosophie bedürfen trotz ihrer Apriorität einer „Deduktion“ (s. d.), einer Rechtfertigung ihres Gebrauchs. Endlich enthält nur die Mathematik Demonstrationen, d. h. intuitiv-apodiktische Beweise; philosophische Erkenntnisse können, obzwar apodiktisch gewiß, nie „anschauende Gewißheit, d. i. Evidenz“ haben, sie sind nicht demonstrierbar, nur der „akroamatischen“ (diskursiven) Beweise fähig, ibid. (I 613 ff.—Rc 758 ff.).
Mathematische Sätze sind „solche, welche durch die Konstruktion der Begriffe Vernunfterkenntnis hervorbringen“. „Daß die Mathematik auf dem Boden des Sinnlichen wandelt, da die Vernunft selbst ihre Begriffe konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung darstellen und so die Gegenstände a priori erkennen kann, die Philosophie hingegen eine Erweiterung der Erkenntnis der Vernunft durch bloße Begriffe, wo man seinen Gegenstand nicht sowie dort vor sich hinstellen kann, sondern die uns gleichsam in der Luft vorschweben, unternimmt, fiel den Metaphysikern nicht ein als einen himmelweiten Unterschied, in Ansehung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori, zur wichtigen Aufgabe zu machen“, Fortschr. d. Metaph. Vorr. (V 3, 85 ff.). „Philosophie ... ist die Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen, Mathematik hingegen die Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe.“ „Der Mathematiker kann sich nie seiner Vernunft nach bloßen Begriffen, der Philosoph ihrer nie durch Konstruktion der Begriffe bedienen. — In der Mathematik braucht man die Vernunft in concreto, die Anschauung ist aber nicht empirisch, sondern man macht sich hier etwas a priori zum Gegenstande der Anschauung.“ Die Erkenntnisse der Mathematik sind „intuitiv“, die der Philosophie nur „diskursiv“, Log. Einl. III (IV 25). Vgl. Konstruktion, Metaphysik.