Intellektuelle Anschauung
Anschauung, intellektuelle. Unsere Anschauung ist sinnlich, passiv (auf der „Rezeptivität“ der Sinnlichkeit beruhend), sie ist keine intellektuelle, vom Intellekt unmittelbar bewirkte, urbildliche Anschauung. Das Objekt einer (nicht gegebenen, aber denkbaren) intellektuellen Anschauung ist als solches ein „Noumenon“ (s. d.).
Die Anschauung unseres Geistes ist „immer passiv und deshalb nur soweit möglich, als etwas unsere Sinne affizieren kann. Dagegen ist die göttliche Anschauung, welche das Prinzip der Gegenstände, nicht ihre Wirkung darstellt, da sie unabhängig ist, das Urbild (Archetypus) und deshalb eine vollkommen geistige (intellektuale)“, Mund. sens. § 10 (V 2, 102).
Von einer „nichtsinnlichen“, „intellektuellen“ Anschauung, deren Gegenstände Noumena im positiven Sinne sind, haben wir keinen positiven Begriff, wir können sie nicht begreifen. Ein Verstand, der die Dinge „intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung“ (nicht „diskursiv“ durch Kategorien) erkennt, ist für uns rein problematisch, KrV tr. Anal. 2. B. 3. H. (I 280 ff.—Rc 343 ff.).
„Wir könnten uns wohl eine unmittelbare (direkte) Vorstellungsart eines Gegenstandes denken, die nicht nach Sinnlichkeitsbedingungen, also durch den Verstand die Objekte anschaut. Aber von einer solchen haben wir keinen haltbaren Begriff; doch ist es nötig, sich einen solchen zu denken, um unserer Anschauungsform nicht alle Wesen, die Erkenntnisvermögen haben, zu unterwerfen. Denn es mag sein, daß einige Weltwesen unter anderer Form dieselben Gegenstände anschauen dürften; es kann auch sein, daß diese Form in allen Weltwesen, und zwar notwendig ebendieselbe sei, so sehen wir diese Notwendigkeit doch nicht ein, sowenig als die Möglichkeit eines höchsten Verstandes, der in seiner Erkenntnis von aller Sinnlichkeit und zugleich vom Bedürfnis, durch Begriffe zu erkennen, frei, die Gegenstände in der bloßen (intellektuellen) Anschauung vollkommen erkennt“, Fortschr. d. Metaph. 1. Abt. (V 3, 92).
Eine Philosophie, die sich auf eine vermeintliche intellektuelle Anschauung stützt, welche nicht mit Begriffen und Methoden des Verstandes arbeitet, hält sich für „vornehm“. „Der diskursive Verstand (s. d.) muß ... viele Arbeit zu der Auflösung und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach Prinzipien verwenden und viele Stufen mühsam besteigen, um in der Erkenntnis Fortschritte zu tun, statt dessen eine intellektuelle Anschauung den Gegenstand unmittelbar und auf einmal fassen und darstellen würde. — Wer sich also im Besitz der letzteren zu sein dünkt, wird auf den ersteren mit Verachtung herabsehen; und umgekehrt ist die Gemächlichkeit eines solchen Vernunftgebrauchs eine starke Verleitung, ein dergleichen Anschauungsvermögen dreist anzunehmen, imgleichen eine darauf gegründete Philosophie bestens zu empfehlen.“ Eine solche Philosophie, welche nicht arbeitet, hält sich ebendeshalb für vornehm, V. e. vorn. Ton (V 4, 3 f.). — „Die Wirklichkeit der Freiheit können wir nicht aus der Erfahrung schließen. Aber wir haben doch nur einen Begriff von ihr durch unser intellektuelles inneres Anschauen (nicht den inneren Sinn) unserer Tätigkeit, welche durch motiva intellectualia bewegt werden kann“. N 4336. Vgl. Gefühlsphilosophie, Verstand, anschauender, Zweckmäßigkeit.