Einbildungskraft. (Schöne Künste) Das Vermögen der Seele die Gegenstände der Sinne und der innerlichen Empfindung sich klar vorzustellen, wenn sie gleich nicht gegenwärtig auf sie wirken. Es ist also eine Wirkung der Einbildungskraft, dass wir uns eine Gegend, die wir ehedem gesehen haben, mit einiger Klarheit wieder vorstellen, ob sie gleich nicht vor unseren Augen ist. Allgemein erstreckt sich der Begriff dieser Fähigkeit noch etwas weiter, indem man ihr auch noch das zuschreibt, was wir die Dichtungskraft genannt haben.1
Die Einbildungskraft ist eine der vorzüglichsten Eigenschaften der Seele, deren Mangel den Menschen noch unter die Tiere erniedrigen würde; weil er dann als eine bloße Maschine, nur durch gegenwärtige Eindrücke und allemal nach Maßgabe ihrer Stärke würde in Wirksamkeit gesetzt werden. Wir betrachten sie aber hier nur, insofern sie eine der vorzüglichsten Gaben des Künstlers ist und ihre Wirkung an den Werken des Geschmacks bewundern lässt. Sie ist eigentlich die Mutter aller schönen Künste und durch sie unterscheidet sich der Künstler vorzüglich vor anderen Menschen, so wie der Philosoph sich durch Verstand unterscheidet.
Zwar wird kein Mensch ohne Einbildungskraft gefunden, aber nur der kann ein Künstler werden, in dessen Seele sie mit vorzüglicher Lebhaftigkeit wirkt. Das Wesen der schönen Künste besteht darin, dass sie für jeden gegebenen Fall, da man auf die Gemüter anderer Menschen wirken soll, die Vorstellungen in denselben erwecken, welche die verlangte Wirkung mit vorzüglicher Kraft hervorbringen. Da aber nichts stärker auf uns wirkt als die Gegenstände der Sinne und der unmittelbaren Empfindung, so müssen die Künste durch Hilfe der Einbildungskraft des Künstlers, aus der ganzen Natur die sinnlichen Gegenstände zusammenbringen, deren Wirkung in jedem Fall nötig wird. Wessen Einbildungskraft leicht und schnell, bei jeder natürlichen Veranlassung, das, was er jemals von sinnlichen Dingen mit vorzüglicher Wirkung gefühlt hat, wieder gleichsam an seine Sinne zurückbringt, der kann, wenn es ihm sonst nicht an Erfahrung fehlt, fast allezeit, welche Empfindung er will, in sich selbst hervorbringen. Kommt nun zu dieser Wirkung der Einbildungskraft die Gabe und die Fertigkeit, durch die schicklichsten Zeichen, von dem was er selbst sich vorstellt, ähnliche Vorstellungen auch in anderen zu erwecken, so ist er ein Künstler. Demnach ist die Einbildungskraft, wie gesagt worden, die Mutter der schönen Künste. Durch sie liegt die Welt, so weit wir sie gesehen und empfunden haben, in uns und mit der Dichtungskraft verbunden wird sie die Schöpferin einer neuen Welt. Dadurch erschaffen wir uns mitten in einer Wüste, paradiesische Szenen von überfließendem Reichtum und von reizender Annehmlichkeit; versammeln mitten in der Einsamkeit diejenige Gesellschaft von Menschen, die wir haben wollen, um uns, hören sie sprechen und sehen sie handeln.
Man schreibt der Einbildungskraft Leichtigkeit zu, wenn sie bei der geringsten Veranlassung eine große Menge sinnlicher Gegenstände sich wieder vorstellt; Lebhaftigkeit, wenn diese wiederkommende Vorstellungen einen großen Grad der Klarheit haben; Ausdehnung, wenn sie viel solcher Vorstellungen auf einmal mit Klarheit hervorbringt: diese drei Eigenschaften hat die Einbildungskraft des Künstlers in höheren Graden als sie bei anderen Menschen sind. Durch die Leichtigkeit der Einbildungskraft wird sein Werk reich an Vorstellungen; durch ihre Lebhaftigkeit gerät er in Begeisterung und sein Werk gewinnt dadurch das Feuer, das auch uns anflammet; ihrer Ausdehnung haben wir hauptsächlich Ordnung, Plan und Ebenmaß in größeren Werken zu danken und sie macht dem Künstler auch die Wahl des Bessern möglich.
Aber alle diese Vorzüge sind nur noch ein Teil des dem Künstler nötigen Genies. Denn die Einbildungskraft ist an sich leichtsinnig, ausschweifend und abenteuerlich, wie die Träume, die ihr Werk sind, wenn sie allein in der Seele wirkt: allein kann sie den Künstler nicht groß machen. Ein feines Gefühl der Ordnung und Übereinstimmung muss sie beständig begleiten, um dem Werk, das sie erschafft, Wahrheit und Ordnung zu geben; eine durchdringende Beurteilungskraft und starke aber allezeit auf Wahrheit und auf die wichtigsten Beziehungen der Dinge gegründete Empfindungen, müssen die Herrschaft über sie behalten. Denn Weh dem Künstler von vorzüglicher Einbildungskraft, der diese Begleiter und Beherrscher mangeln: sein Leben wird ein immerwährender Traum sein und seine Werke werden mehr den Abenteuern einer bezauberten Welt als den schönen Szenen der wirklichen Natur gleichen. Was für ausschweifende Dinge würde uns nicht Homer von seinen Helden erzählt haben, wenn nicht seine außerordentliche Einbildungskraft durch jene höhere Gaben wäre regiert worden? Wir sehen es an dem Ariost, dem diese Gaben zwar nicht gemangelt haben, bei dem sie aber nicht so herrschend gewesen, dass nicht die stärkere Einbildungskraft bisweilen sich ihres Einflusses entzogen hätte.
Die Einbildungskraft ist zwar unmittelbar eine Gabe der Natur, die sich vielleicht auf feinere Sinnen, auf eine vorzügliche Sinnlichkeit der ganzen Seele und auf eine große Lebhaftigkeit des Geistes gründet; sie kann aber ohne Zweifel, wie alle andere Gaben der Natur, durch Übung gestärkt werden und diese Übung gehört zur Bildung des Künstlers.
Scharfe Sinne sind der Erfolg einer glücklichen Organisation, aber die Weltweisen lehren uns, dass sie durch Übung noch mehr geschärft werden. Durch sie erlangt der Maler ein schärferes Gesicht, misst Verhältnisse, sieht feinere Abänderungen der Umrisse und Schattierungen der Farben, wo ein anderer mit gleich scharfem Auge sie nicht sieht. Wer sein Gehör wenig in Bemerkung der feinern Modifikation des Klanges geübt hat, der empfindet bei dem Klang einer Glocke etwas ganz einförmiges, darin er nichts unterscheidet, da das geübtere Ohr des Tonkünstlers eine Menge einzelner Töne darin bemerket.2 Darum befahl Pythagoras seinen Schülern, ihr Gehör täglich an dem Monochord zu üben. Ohne die fleißigsten Übungen der Sinne, für welche der Künstler arbeitet, wird seine Einbildungskraft da, wo er sie am meisten nötig hat, mittelmäßig bleiben. Aber der Dichter, der allein für alle Sinne arbeitet, muss auch alle durch Übung verfeinern.
Auch der Hang nach einer allgemeinen Sinnlichkeit, wodurch die Einbildungskraft unterstützt wird, kann durch Übung vermehrt werden. Hier ist nicht von der gröbern Sinnlichkeit die Rede, von dem bloß tierischen Hang, undeutliche, von allem geistigen Wesen entblößte, nur den Körper reizende Empfindungen zu haben. Je mehr die Seele des Künstlers sich von dieser groben Sinnlichkeit entfernt, je mehr gewinnt seine Einbildungskraft, weil diese Sinnlichkeit die Seele mit Trägheit erfüllt und ein bloß leidendes Wesen aus ihr macht. Die feinere Sinnlichkeit des Künstlers ist ein Hang, sich den sinnlichen Eindrücken mit Geschmack und Überlegung so zu überlassen, dass man jedes reizbare darin bemerkt, ohne es ergründen oder es der Prüfung des Verstandes unterwerfen zu wollen. Der Künstler überlässt sich der angenehmen Empfindung, die der Regenbogen in ihm erweckt, mit Geschmack, indem er jedes einzelne dieser Empfindung besonders, aber doch immer auch alles zugleich empfinden will; er fühlt die Schönheit der Farben, die Harmonie derselben und die liebliche Wölbung des Bogens, einzeln und doch alles zugleich: da der weniger sinnliche Naturforscher beschäftigt ist, bei dieser Empfindung mehr seinen Verstand als seine untern Seelenkräfte zu üben. Er will die Entstehung der Farben und die geometrische Bestimmung der Rundung deutlich erkennen. Dieser Hang in jeder Vorstellung das einzelne aufzusuchen, abzusondern und mit Deutlichkeit zu fassen, ist der Grund des Untersuchungsgeistes und zerstört die Sinnlichkeit, die eine Stütze der Einbildungskraft ist.
Es kann einem künftigen Künstler, dessen Einbildungskraft an das Ausschweifende grenzt, nützlich sein, die strengern Übungen des Verstandes durch Erlernung der Wissenschaften, bis auf einen gewissen Grad zu treiben. Ein großer Dichter nennt die Messkunst ganz richtig den Zaum der Phantasie;3 aber der zum Künstler berufene Jüngling muss sich, wo er nicht ein außerordentliches zu allem gleich aufgelegtes Genie hat, nicht zu tief in abgezogene Untersuchungen einlassen, er muss sich vorzüglich bemühen, Begriffe, Wahrheit und allgemeine Kenntnis mehr anschauend in sinnlichen Gegenständen zu empfinden als durch den reinern Verstand zu erkennen.
Wir haben eine vorzügliche Lebhaftigkeit und Tätigkeit des Geistes mit zu den Grundlagen einer lebhaften und leichten Einbildungskraft gezählt und auch diese muss durch Übung vermehrt werden. Jede Seele kann durch Hemmung der Tätigkeit träg werden. Man gebe nur auf die Wirkungen der weibischen Erziehung Achtung, bei der das erste Gesetz ist, das vornehme Kind von allem, was es in Verlegenheit setzen, von allem, was ihm Mühe machen könnte, von allem, wobei ihm eigene Überlegung und Anstrengung seiner Kräfte nötig wären, zurückzuhalten; jeder Begierde und jeder Äußerung seiner Wirksamkeit zuvorzukommen. Durch eine solche Erziehung wird der Seele ihre männliche Kraft weggeschnitten, alle Nerven werden schlaff und man macht aus dem Menschen eine Missgeburt, der die wesentlichste Eigenschaft eines vernünftigen Geschöpfes, die innere tätige Wirksamkeit benommen ist.
Aber durch fleißige Übung seiner Vorstellungskräfte erlangt der Geist die Lebhaftigkeit, der er fähig ist. Glücklich hierin ist der, dessen Erziehung frei und tätig gewesen, dessen noch unentwickelte Seelenkräfte hinlängliche Reizung zur Wirksamkeit empfunden, der schon früh fühlen gelernt, dass durch Aufforderung seiner Kräfte das Gebiet seiner eigenen Wirksamkeit erweitert, durch Untätigkeit aber in enge Schranken eingeschlossen werde. Dadurch bekommt der Geist seine Lebhaftigkeit, dass er unaufhörlich gegen alle ihm vorkommende Gegenstände wirksam wird. Dieses sind also die Mittel der Einbildungskraft ihre völlige Stärke zu geben.
Das nächste, was hierauf zur Bildung eines großen Künstlers gehört, ist, dass er seine Phantasie bereichere. Denn sie ist das Zeughaus, woraus er die Waffen nimmt, die ihm die Siege über die Gemüter der Menschen erwerben helfen. Die Einbildungskraft erschafft nichts neues, sie bringt nur das, was unsere Sinne gerührt hat, wieder heran. Also muss sie durch Erfahrung bereichert werden. Der Künstler muss die Gegenstände seiner Kunst zuerst in der Natur gesehen oder empfunden haben, damit sie ihm danach, wenn er sie gebraucht, wieder gegenwärtig seien, damit ihre Menge und Mannigfaltigkeit ihm entweder eine gute Wahl gestatten oder seiner Dichtungskraft Gelegenheit geben, desto glücklicher neue zu erfinden. Also muss er unaufhörlich seine Sinne für jeden Gegenstand offen halten, dass ihm nichts entgehe; er muss den mannigfaltigen Szenen der Natur und des sittlichen Lebens der Menschen überall nachgehen, sie in mehreren Ländern und unter mehreren Völkern aufsuchen; aber ein scharfer Beobachtungsgeist muss ihn überall begleiten. Was ein guter Kenner4 dem Maler anrät, kann jedem Künstler zur Lehre dienen; er soll dem Philopömen nachahmen, der auf allen Reisen, auch mitten im Frieden, jede Gegend die ihm fürs Gesicht kam, mit dem Auge eines Heerführers betrachtete; hier steckte er in Gedanken ein Lager ab; da stellte er seine Posten zur Sicherheit aus; hier rückte er gegen den Feind an; durch diesen Weg nahm er einen verdeckten Marsch vor; durch dergleichen Betrachtungen bereicherte er seine Einbildungskraft mit allem, was ein Heerführer zur Beurteilung der guten und schlechten Lage der Orte nötig hat. So hat Homer durch Reisen, durch Beobachtung der Menschen, der Sitten, der Künste, der Beschäftigungen im öffentlichen und im Privatleben, seine Einbildungskraft dergestalt angefüllt, dass sie unerschöpflich an jeder Art der Gegenstände geworden. So muss der Maler sein Aug, der Tonkünstler sein Ohr, aber der Dichter jeden Sinn unaufhörlich gespannt halten, damit seiner Beobachtung von allen ihm dienenden Gegenständen nichts entgehe. Es würde überaus nützlich sein, wenn jemand mit hinlänglicher Kenntnis der Sachen jungen Künstlern zugefallen, ein Werk schriebe, wodurch sie alle Mittel ihre Phantasie zu bereichern, könnten kennen lernen. Einen Versuch hierüber hat Bodmer gemacht,5 und der Maler wird in dem vortreflichen Werk des Leonhard Vinci viel dahin dienendes antreffen.6
Einer lebhaften und mit hinlänglichem Reichtum angefüllten Einbildungskraft, die Geschmack und Beurteilung zur Begleitung hat, fehlt denn, um die glänzendsten Werke hervorzubringen, nichts weiter als dass sie zu rechter Zeit gehörig erwärmt werde und nach Beschaffenheit der Sache eine stärkere oder gemäßigtere Begeisterung in der Seele des Dichters hervorbringe. Wir haben aber an einem anderen Orte, so wohl die Entstehung als die wunderbaren Wirkungen dieser erhöhten Wärme der Einbildungskraft in nähere Betrachtung gezogen und das was über die Begeisterung gesagt worden, ist als eine Fortsetzung des gegenwärtigen Artikels anzusehen.
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1 S. Dichtungskraft.
2 S. Harmonie.
3 Haller an Herrn D. Geßner.
4 Junius da Pictura Vett. L. I. c. 2.
5 Von den poetischen Gemälden im 1 Kap.
6 Traitté de la peinture.