Euripides. Ein tragischer Dichter in Athen, der jüngste von den dreien, von denen wir noch ganze Trauerspiele haben. Er ist um die 75 Olympias oder die Zeit geboren, da die Athenienser ihrem großen Siege über den Xerxes erfochten haben. Sein Vater soll ihn erst zu den Leibesübungen erzogen haben, welche von den Atheniensern Pankratia genannt worden und erst, nachdem er in öffentlichen Spielen dieser Leibesübungen den Sieg erhalten, soll er sich auf die Beredsamkeit und Dichtkunst gelegt haben. Er hörte den Anaxagoras in der Weltweißheit und war auch einer von den würdigsten Schülern des Sokrates. Er hat in allem 92 dramatische Stücke verfertigt, darunter acht satirisch, die anderen tragisch gewesen. Von den ersteren ist nur eins, nämlich der Zyklops, auf uns gekommen, von den anderen aber haben wir noch achtzehn ganze Stücke. Er hat fünfzehnmal den Preis der dramatischen Dichtkunst erhalten. Man sagt, er habe aus Verdruss über die schlechte Aufführung seiner zweiten Frauen Athen verlassen und sich zu dem Macedonischen König Archelaus begeben und sei in Macedonien, da er in einem Wald zu der Zeit spazieren gegangen, als Archelaus auf die Jagd gekommen, von dessen Hunden in seinem siebzigsten Jahr zerrissen worden.
Aristoteles räumt ihm unter allen Dichtern, in Absicht auf das Tragische oder Traurigmachende in seinen Vorstellungen, den ersten Platz ein. Er ist in Ansehung der Größe in den Charaktern seiner handelnden Personen, weit hinter dem Äschylus zurück. In Ansehung der Regelmäßigkeit seiner Trauerspiele und der Einfalt der Vorstellung, so wie in Ansehung des Großen, ist er auch dem Sophokles nachzusetzen. Er hat sich wenig Mühe gegeben den Plan seiner Fabeln vollkommen zu machen und in besonderen Fällen scheint er sich weniger bekümmert zu haben, ob die Reden den Personen, der Zeit und den Umständen angemessen seien, wenn sie nur etwas Lehrreiches enthielten. Aber sein nachlässiges Wesen hat, wie der P. Brümoy wohl anmerkt, einen Reiz, der der Regelmäßigkeit des Sophokles die Waage hält. Er hielt sich mehr an die Natur als an die Kunst und indem er schrieb, zog er mehr sein empfindendes Herz, als seinen Verstand zu rate.
Wenn seine Personen uns nicht so oft in Bewunderung ihrer Größe setzen als des Äschylus seine und nicht so männlich sind als sie Sophokles vorstellt, so empfinden sie Glück und Unglück stärker und drücken ihre Empfindungen so aus, dass sie in die verborgensten Winkel unseres Herzens dringen und uns zum höchsten Mitleiden bewegen. Er zeichnet uns mehr wirklich in der Natur vorhandene als idealische oder erhöhte Charaktere, aber seine Zeichnungen sind meisterhaft.
In Erfindung tragischer Umständen und trauriger Zufälle, ist er bis zur Verschwendung reich. Von allem dem, was einen Menschen bis zur traurigsten Empfindung rühren kann, scheint ihm nichts entgangen zu sein. Die zärtlichen Saiten des Herzens weiß er alle zu treffen und ihr Spiel bis auf den höchsten Grad zu treiben. Er erweckt weit mehr zärtliches Mitleiden und Liebe für die handelnden Personen als Hochachtung. Das Schreckliche und Große hat er nicht gesucht oder nicht zu erreichen vermocht; wiewohl er sich auch bisweilen bis zum Erhabenen in den Beschreibungen und bis zum heroisch zärtlichen der Empfindungen schwingt. Von dem ersteren geben die Wunder, die Bacchus in Theben tut, in seinen Bacchantinen einen Beweis, von dem anderen wollen wir ein Paar Beispiele hier anbringen.
Als die Herakliden in der äußersten Gefahr waren, dem Tyrannen Eurysthäus in die Hände zufallen und von ihm ermordet zu werden, sagt das Orakel dem Demopheon, es sei keine Rettung übrig als wenn eine Jungfrau von edlem Blute den Göttern geopfert werde. Macaria, eine Tochter des Herkules, hört dieses von dem Jolaus und sagt ihm:
Ist dann dieses das einzige Mittel zu unserer Errettung. Jol. Das einzige, denn im übrigen würden wir ganz glücklich sein. Mac. So fürchte nur das feindliche Heer der Argiver nicht länger. Nämlich so bald Macaria hört, dass sie durch einen freiwilligen Tod die ihrigen retten können, steht sie nicht einen Augenblick an, ihr Leben anzubieten.
In demselben Stück legt der Dichter dem alten Jolaus einen großmütigen Gedanken bei. Alcmene will ihn abhalten in die Schlacht zu gehen, durch welche die Herakliden sollten frei werden. Sie fürchtet, er möchte darin umkommen und ihre Kinder würden dann ihres besten Beschützers beraubet sein. Er gibt ihr aber diese großmütige Antwort. Des Herkules Söhne werden die Sorge aller deren sein, die am Leben bleiben werden, wodurch er nicht allein die Geringschätzung seines eigenen Lebens, sondern den großen Eindruck, den die Verdienste des Herkules bei den Griechen gemacht, auf das edelste ausdrückt.
Übrigens zeigt sich dieser zärtliche Dichter überall als einen würdigen Schüler des großen Sokrates, der die Sache der Wahrheit und Tugend überall verficht. Die Sittensprüche, welche er häufig anbringt, gäben eine Sammlung der vornehmsten Lehren der Weltweisheit, so dass man gar deutlich bemerket, er habe es sich als einen Hauptzweck vorgesetzt, die Zuschauer in allem Wahren und Guten zu unterrichten. Er hatte Herz genug den Aberglauben und die falsche Götterlehre seiner Zeit mit sokratischer Stärke anzugreifen. In seiner Helena legt er einem Boten folgende Worte in den Mund1. » Ich sehe, wie elend lügenhaft das ganze Wesen der Wahrsager ist. Weder in der Flamme des Feuers, noch in der Stimme der Vögel liegt etwas heilsames für den Menschen und es ist töricht nur zu vermuten, dass die Vögel uns zu Hilfe kommen. – Warum lassen wir uns denn wahr sagen? Lasst uns durch Opfer gutes von den Göttern erbitten und den Wahrsagungen Abschied geben. Noch ist kein Fauler durch die Wahrsagung reich geworden. Klugheit und guter Rat sind die besten Wahrsager. – – – Wer die Götter zu Freunden hat, der besitzt die beste Wahrsagerkunst .«
Eben so kühn redet er wider die unsittliche Götterlehre seiner Zeit. In dem Trauerspiel Jon sagt dieser Jüngling zum Apollo: Wie kann dieses recht sein, dass ihr, die den Sterblichen Gesetze geben, selbst unsittlich seid? Denn wenn diese Geschichten wahr sein sollten, so werdet ihr von den Sterblichen wegen gewaltsamen Entführungen zur Strafe gefordert werden, du und Neptun und Jupiter, der im Himmel herrscht. – – – Es wäre nicht billig die Menschen in den Fällen anzuklagen, da sie nur die Schandtaten der Götter nachahmen, sondern diese, die die Beispiele gegeben haben . Seine Götterlehre ist den unverfälschten Einsichten gemäß. Folgendes ist ein vortreffliches Beispiel davon. Was ist der Reichtum des Thrones? sagt Jocaste in den Phönizierinnen, – – Alle Reichtümer gehören eigentlich nur den Göttern zu, die Menschen sind bloß die Verwalter und Austeiler derselben. Sie nehmen sie wieder, so oft es ihnen beliebt.
Es wäre leicht, eben so herrliche Lehren und Wahrheiten über alle wichtigen Punkte der Sittenlehre aus diesem philosophischen Dichter anzuführen. Doch müssen wir dabei auch bemerken, dass ihn die Liebe zu moralischen Sprüchen oft zur Unzeit übernommen hat. Er bringt sie oft so an, dass man die handelnde Person, der sie in Mund gelegt werden, aus dem Gesichte verliert und nur den Dichter erblickt. Daher werden dergleichen Sprüche in dem Mund der Person oft unwahrscheinlich. Wie wenig sorgfältig er über diesen Punkt gewesen, kann folgende Stelle hinlänglich zeigen. In der Tragödie, die er die um Schutz flehenden betitelt, fällt Adrast dem Theseus zu Füßen und sagt unter anderen: der, welcher im Wohlstand ist, sieht, wenn er Verstand hat, auf die Armut – (die Absicht des Dichters ist zu sagen, dass man müsse durch den Gegenstand gerührt sein, um demselben gemäß zu handeln,) so wie es nötig ist, dass der Dichter, wenn er Lieder macht, es mit Lust tue; denn wenn er nicht in der Lust ist und zu Hause Verdruss hat, so kann er andere nicht vergnügen.2
Man sieht überhaupt aus jedem Trauerspiel dieses vortrefflichen Mannes, dass er ein ernsthafter, zärtlicher und etwas melancholischer Dichter gewesen. Man sagt, dass er in seinem Hause viel Betrübnis und Verdruss gehabt und es war ihm ohne Zweifel damals als er das Trauerspiel, woraus wir die letzte Stelle angeführt haben, geschrieben hat, etwas von dieser Art begegnet. Er fand daher in tragischen Vorstellungen und im klagenden Ton seine Lust. Sein Herz war äußerst zärtlich, der Freude wenig offen und seine Gemütsart etwas verdrießlich. Man gibt außer dem natürlichen Hang des Temperaments, auch verschiedene Umstände an, die ihn dazu können gebracht haben. Er soll auf einer Reise eine Gemahlin, die er zärtlich geliebt, zwei Söhne und eine Tochter durch unvorsichtiges Essen giftiger Pilse, verloren haben.3 Andere sagen auch, er habe eine zweite Frau gehabt, deren üble Aufführung ihm den höchsten Verdruss gemacht. Und dieses wird dadurch wahrscheinlich, dass er nicht leicht eine Gelegenheit vorbei gehen lässt, seine wenige Achtung für das weibliche Geschlecht an den Tag zu legen. Diese Materie scheint sein Lieblingstext zu sein, so dass er bisweilen recht anstößig dadurch wird. In Bezeichnung der Charaktere ist er der Natur getreu, wiewohl er sie nicht aus der heroischen, sondern mehr aus der gemeinen Natur nimmt. Er zeichnet aber meisterhaft und mit wenigen Zügen. Die Reden der Personen, wenn man an einigen Orten seine übertriebene Liebe zu Sittensprüchen ausnimmt, sind allgemein höchst natürlich, den Sachen, Umständen und Personen sehr angemessen. Er zeigt darin eine recht große Beredsamkeit, das Schicklichste auf die beste und oft nachdrücklichste Weise zu sagen. Ich kann mich nicht enthalten nur eine Probe hiervon zu geben. Als Herkules von der Wut, darin er seine Kinder umgebracht hat, wieder zu sich selbst gekommen und voll schwarzen Grams sich verlauten lässt, dass er sich selbst umbringen wolle, sagt Theseus zu ihm: Du redest wie einer aus dem Pöbel. Sagt dieses Herkules, der schon so viel überstanden hat, der Wohltäter der Menschen und ihr größter Freund?
In der Mechanik der Trauerspiele hat Euripides sehr viel weniger Einfalt als Äschylus und Sophokles. Es ist allgemein viel Mannigfaltigkeit und Verwicklung in den Vorfällen. Die genaueste Beobachtung der Einheit in Ansehung der Zeit und des Orts hat er nicht so hoch geachtet als die anderen, deswegen ist auch nicht alles von so großer Wahrscheinlichkeit. In seiner Andromache geht Orestes von Phthia nach Delphi, bringt daselbst den Neoptolem um und ein Bote kommt daher wieder nach Phthia, es zu sagen. Dies alles geschieht in der Zeit, da der Chor wenige Strophen singt. Eben so wenig streng ist er in Beobachtung des Üblichen oder des Costume. Er lässt in dem Hippolytus die Hofmeisterin der Phädra sagen: Es sei nichts vollkommenes in der Welt und selbst die Gebäude der besten Meister haben immer noch ihre Fehler; als wenn man zur Zeit des Theseus schon sehr über die Schönheiten der Baukunst raffiniert hätte. Und es schmeckt weit mehr nach dem Zeitalter des Euripides als des Theseus, wenn Hippolytus sagt, er habe immer so keusch gelebt, dass er nicht einmal die schlüpfrigen Gemälde anzusehen gewohnt sei. Er ist der erste und von den übrig gebliebenen tragischen Dichtern der einzige, der seine Trauerspiele mit einer besonderen Art Eingang anfängt, darin eine der handelnden Personen die Zuschauer von dem Inhalt des Stücks unterrichtet und mit einigen der Personen bekannt macht. Und hierin hat er oft so wohl die Wahrscheinlichkeit überschritten als zu viel gesagt.
In der Schreibart reicht er weder an die Hoheit des Äschylus noch an den kernigen, männlichen und feurigen Ausdruck des Sophokles. Aber er ist überall angenehm, herzurührend, und, besonders in klagenden und zärtlichen Stellen, höchst beredt. Fast überall ist er, so weit wir von dem griechischen Vers urteilen können, sehr wohlklingend und überaus besorgt, den Klang des Verses so wohl, als einzelner Worte, dem besonderen Inhalt der Materie gemäß einzurichten. Kurz seine Tragödien sind eines der kostbarsten Überbleibsel des Altertums, welche man niemals genug lesen kann. Unter den Neueren hat Racine ihn stark nachgeahmt und besonders seine zärtlichen Szenen, so oft es die Gelegenheit gab, sich sehr zu nutze gemacht.
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1 Hel. vs. 750 f. f.
2 Iketid. vs. 180 f. f.
3 Athen L. II.