Ende. (Schöne Künste) Das letzte in einer Sache, wodurch ihr solche Schranken gesetzt werden, dass nichts mehr folgen kann, das ihr zugehört. Jeder schöne Gegenstand muss ein Ganzes ausmachen, überall so beschränkt sein, dass kein Mangel mehr daran zu merken ist. Er muss einen Anfang und ein Ende haben. Eigentlich wird nur den Gegenständen ein Anfang und ein Ende zugeschrieben, deren Teile der Zeit nach auf einander folgen; einer Rede, einem Gesang, einer Begebenheit oder Handlung. Doch kann man einigermaßen auch den Gegenständen, deren Teile auf einmal vorhanden sind, Anfang und Ende zuschreiben; denn wenn sie so sind, dass man an ihren beiden Enden nichts hinzusetzen kann, das noch dazu gehörte, so sagt man, sie seien vollendet. So ist z. B. eine Säule, die ihren Fuß und ihren Knauf hat, vollendet und man kann weder unten noch oben etwas hinzu tun, das noch zur Säule gehörte. Beide, so wohl das obere als das untere Ende, sind daran; deswegen nennt man sie vollendet, ganz fertig, und betrachtet sie als ein Ganzes.1 Da von dieser Art der Vollendung im Art. Ganz hinlänglich gesprochen worden; so bleibt hier übrig die Beschaffenheit des Endes in der Folge der Dinge zu betrachten.
Darum, dass eine Sache das Letzte in der Vorstellung ist, kann sie noch nicht das Ende derselben genannt werden. Wenn eine Erzählung in ihrer Mitte abgebrochen wird, so ist allerdings etwas das Letzte in dem, was erzählt worden, aber die Erzählung hat darum kein Ende. Eben so wenig hat ein aufgegebenes Unternehmen, das weder gelungen noch misslungen ist, sondern abgebrochen worden, eh' alles, was dazu gehörte, angewendet worden, ein Ende. Nur alsdann ist das Letzte in einer Sache das Ende derselben, wenn man daraus erkennt, dass die Sache nun Ganz sei und dass nichts mehr darin folgen könne.
Je bestimmter und ausdrücklicher das Ende kann bemerkt werden, je vollkommener ist es, weil alsdann der Geist den Geist den Gegenstand völlig fasst und ihm nichts mehr zu suchen oder zu verlangen übrig bleibt. Indem man sich die Teile eines wohl geordneten Werks nach und nach vorstellt, so merkt man eine gewisse Bestimmung derselben. Man erkennt oder vermutet eine Absicht, warum sie auf einander folgen. An dem Ende erkennt man die völlige Erreichung der Absicht, zu deren Vollkommenheit nichts mehr hinzu getan werden kann.
Es kann sich aber eine Vorstellung auf zweierlei Art enden, deren jede eine besondere Beschaffenheit des Endes erfordert. Entweder hat man gleich anfangs einen allgemeinen Begriff von der Beschaffenheit des Ganzen und weiß also, womit dasselbe sich enden muss. Wenn ein Redner oder Dichter den Inhalt der Rede oder des Gedichts angezeigt hat, so weiß man überhaupt, wo er das Ende derselben setzen wird, nämlich, da der Inhalt seines Werks vollendet ist. So erwartet man in der Ilias das Ende, wo der Zorn des Achilles und die üblen Folgen desselben erschöpft oder die Passion selbst gedämpft ist; in der Odyssee erwartet man es bei der Rückkehr und Einsetzung des Ulysses in sein Reich; von der Äneis erwartet man das Ende da, wo dieser Held einen ruhigen Sitz in Italien gefunden hat.
Eine andere Art des Endes aber ist das, von dessen Beschaffenheit man keine bestimmte Erwartung hat, weil man sich vorher von dem Ganzen keinen Begriff hat machen können, da man die Einheit desselben erst durch das Ende einsieht. In diesem Fall ist das Ende der Schlüssel zum Ganzen, ohne den man sich keinen Begriff von der Beschaffenheit der Sache hat machen können. Von dieser Art ist das Ende einer solchen Rede, deren Absicht man nicht eher erkennt, bis sie ganz vollendet ist. Deutliche Beispiele eines solchen Endes haben wir an den Gleichnissen, darin die verglichene Sache erst zuletzt, wenn das ähnliche Bild ganz ausgezeichnet ist, genannt wird. Ein solches Ende ist auch der moralische Satz einer Fabel, der erst den ganzen Aufschluss zu der Erzählung gibt.
In den Werken der ersteren Art muss die Handlung oder die Erzählung ein solches Ende haben, dass die Erwartung völlig befriediget wird und alles Versprochene gänzlich erfüllt worden. Da Virgil in der Ankündigung der Acneis gesagt hat, er wolle seinen Helden von Troja aus, durch mancherlei Gefahren bis nach Italien begleiten, wo er einen ruhigen Sitz finden soll; so hätte dies Werk kein End, wenn er eher aufgehört hätte. Das Ende der Odyssee wär' unvollkommen, wenn das Werk da aufhörte als Ulysses wieder in seinem Hause angekommen und ehe man sähe, ob er ruhigen Besitz von seinem kleinen Staat genommen habe. In dem Drama muss das Ende so beschaffen sein, dass die völlige Auflösung der ganzen Verwicklung und der ganze Zweck der Handlung erfüllt ist. Dieses hat Plautus nicht allemal in Acht genommen. In seiner Casina beruht die ganze Handlung auf der Verheiratung dieser Person. Sie wird am Ende bloß zum Schein dem Stalino gegeben, und erst, da die Handlung auf der Bühne schon gänzlich aufgehört hat, kommt einer von den Schauspielern noch einmal hervor und sagt, der Sohn des Stalino werde sie bekommen. Bisweilen geht es gar nicht an, dass die Handlung auf der Bühne oder überhaupt im Drama ganz zu Ende gebracht werde, weil durch die weitläufigen Veranstaltungen, um das Ende natürlich vorzustellen, der Zuschauer wieder erkalten würde.
Am vollkommensten ist das Ende dieser Art, wenn es mit einer Handlung, Verrichtung oder Begebenheit endigt, die ein offenbares Zeichen ist, dass alles vollendet sei, so dass es ungereimt wär' einen Zweifel daran zu haben
Das Ende von der anderen Art ist vollkommen, wenn es alles vorhergehende in einen einzigen Gesichtspunkt vereinigt, so dass man nun dasjenige, worauf alle Teile zusammen gestimmt haben, völlig einsieht und an der gänzlichen Erreichung des Zwecks keinen Zweifel mehr haben kann. Sind aber die Teile, welche vorhergegangen, zu mannigfaltig gewesen als dass sie kurz in einen Gesichtspunkt könnten vereinigt werden, so muss dem Ende eine Zusammenfassung des vorhergehenden, welche die Lateiner Rekapitulatio nennen, vorhergehen. Denn ie kürzer dann das wirkliche Ende ist, je schöner wird es.
Die möglichste Kürze muss bei dem Ende um so viel mehr in Acht genommen werden, weil es sonst als ein merklich großer Teil wieder ein Ende haben müsste.
Wenn also das, was eigentlich das Ende einer Handlung ausmacht, selbst eine etwas weitläufige Handlung wäre, so lässt sie sich wirklich weder ganz erzählen noch vorstellen. In der Erzählung muss sie sehr abgekürzt werden; in der Vorstellung muss sie lieber ganz wegbleiben, wenn nur der Zuschauer gewiss ist, dass sie vorgeht. Es geschieht im Drama bisweilen, dass das eigentliche Ende der Handlung sich nicht vorstellen lässt und dass der Dichter mit dem Terenz sagen muss: intus transigetur, si quid est quod restet.2 Aber ein solches Ende ist doch weniger vollkommen.
In der Musik wird das Ende eines Gesanges dadurch fühlbar, dass man in den Hauptton, in welchem man angefangen hat und aus dem man in verschiedene andere Töne ausgewichen ist, wieder zurück kehrt und alles mit einer ganzen und vollkommenen Kadenz in diesem Ton beschließt.3 Auch der Tanz muss, sowohl in der Musik als in der Handlung der Personen seinen förmlichen Schluß haben; denn es ist kindisch, dass die Tänzer ohne Schluß der Handlung von der Bühne weglaufen als wenn sie wären verjagt worden.
_______________
1 S. Ganz.
2 Andr. in fine.
3 S. Kadenz.