Erweiterung. (Beredsamkeit) Longinus gibt folgende Erklärung davon; sie sei eine vollständige Zusammentragung aller, einer Sache zugehörigen, Umstände und Eigenschaften, wodurch die Hauptvorstellung ihre wahre Größe und Stärke erhält. Man kann nämlich eine Sache entweder bloß nennen oder auf die kürzeste Weise nach dem, was ihr wesentlich oder zufällig zukommt, anzeigen oder man kann sie weitläufiger nach ihren Eigenschaften, Wirkungen und verschiedenen Verhältnissen beschreiben. Wenn also der Redner, nachdem er das, was wesentlich zu seinem Gegenstande gehört, gesagt hat, noch etwas hinzutut, um die Vorstellung zu verstärken, sie lebhafter zu machen oder ihr eine weitere Ausdehnung zu geben, so gehört dieses zur Erweiterung. Man setze, dass ein geistlicher Redner an einer Stelle seiner Rede nötig habe, die Vorstellung von Gottes Allwissenheit zu erwecken. Der Satz: Gott ist allwissend, wäre hier das Wesentliche, was er zu sagen hat; tut er hinzu: alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige, was wirklich geschieht oder bloß möglich ist, stellt sich ihm deutlich dar; so ist dieser Zusatz eine Erweiterung.
Der Vortrag des Dichters und des Redners unterscheidet sich von dem Vortrag des forschenden und lehrenden Philosophen hauptsächlich durch die Erweiterungen, die ihnen vorzüglich eigen sind. Bisweilen ist eine ganze Rede oder ein ganzes Gedicht nichts anders, als ein einziger Gedanken, der durch mancherlei Erweiterungen lebhafter und einleuchtender gemacht worden. So ist die siebende Ode des 1 Buches beim Horaz nichts anders als eine Erweiterung eines sehr einfachen Gedankens.
Ein wichtiger Teil der Kunst des Redners und Dichters besteht demnach in der Geschicklichkeit zu erweitern; wenigstens ist sie bei dem Redner beinahe die Hauptsache. Wenn man von bekannten Dingen zureden hat; wenn in einer lehrenden Rede alles, was man anzubringen hat, klar und verständlich ist, so sind die Erweiterungen das einzige Mittel der Rede aufzuhelfen, die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu reizen und dem Vortrag ästhetische Kraft zu geben.
Die Erweiterung hat sowohl bei einzelnen Gedanken oder bei besonderen Teilen einer Rede als bei der ganzen Rede überhaupt statt, deren Wirkung beim Schluss dadurch verstärkt werden kann. In so fern ist sie ein Hauptteil des Beschlusses der Rede und so sieht sie Cicero an.1
Wenn man das, was wesentlich zu Erweckung gewisser Vorstellungen, zur Überzeugung oder zur Rührung gehört, vorgetragen hat; so können wegen der völligen Wirkung des Vorgetragenen noch zweierlei Zweifel entstehen. Entweder hat der Zuhörer noch nicht Zeit genug gehabt sich den Vorstellungen so zu überlassen, dass er ihre völlige Wirkung schon gefühlt hätte, denn dazu gehört allemal, nach den Fähigkeiten des Zuhörers, mehr oder weniger Zeit; oder die Vorstellungen haben ihrer Gründlichkeit und Richtigkeit ungeachtet nicht genug ästhetische Kraft, weil sie zu abgezogen, zu einfach, zu spekulativ sind. In diesen beiden Fällen muss der Redner seine Zuflucht zur Erweiterung nehmen. Sie verursacht im ersteren Fall eine Verweilung auf den Vorstellungen, von denen man die Wirkung erwartet. Der Zuhörer bekommt dadurch Zeit sich den Eindrücken zu überlassen. Es geht bei den offenbarsten Wahrheiten nicht an, dass der Redner die Sätze so unaufgehalten nach einander vortrage, wie man es bei einem geometrischen Beweis tut. Jeder Satz muss notwendig eine Zeitlang der Vorstellungskraft gegenwärtig sein, wenn man seine Wahrheit recht einleuchtend empfinden soll. Diese Verweilung kann nicht durch Unterbrechung des Vortrages, durch ein Verweilen des Redners erhalten werden; er muss fortreden. Also bleibt ihm nur das Mittel übrig, das, was er gesagt hat, noch einmal auf eine andere Art zu sagen; etwas hinzuzusetzen, das die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf denselben Begriffen unterhält; dieselbe Hauptsache in einem anderen und noch anderen Lichte zu zeigen.
Dieses heißt aber den Satz Erweitern. Man kann deswegen bei der Beweisart, die man Induktion nennt2, diese Erweiterung am leichtesten anbringen, wenn man mehrere Fälle zum deutlichen Begriff der Sachen aussucht, wovon das, was am angezogenen Ort aus dem Xenophon angeführt worden, zum Beispiel dienen kann. Die Geschicklichkeit, die Zuhörer durch geschickte Erweiterungen eine hinlängliche Weile bei gewissen Hauptvorstellungen aufzuhalten, bis sie ihre Wirkung getan haben, ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Talente des Redners, ohne welches die höchste Gründlichkeit und Scharfsinnigkeit ihm sehr wenig hilft.
Eben so notwendig ist auch die Erweiterung in dem anderen Fall, wo das wesentliche der Vorstellungen gar zu einfach ist. Denn dadurch verliert es seine ästhetische Kraft; es beschäftigt bloß den Verstand und hat keine Wirkung auf das Gemüt. Was also abstrakt und einfach gesagt worden, weil die Natur der Sachen dieses erfordert, das muss durch die Erweiterung der Einbildungskraft und dem anschauenden Erkenntnis nun auch noch lebhafter, sinnlicher, mit mehreren verstärkenden Nebenbegriffen gesagt werden. So wie Haller, nachdem er gesagt hat:
Unendlichkeit, wer misset dich?
durch Erweiterung hinzu tut
Vor dir sind Welten Tag' und Menschen Augenblicke.
Es ist überhaupt offenbar, dass die Kraft der Beredsamkeit großen Teils von geschickten Erweiterungen abhange, ohne welche die gründlichste Rede trocken und ohne Kraft ist. Vielleicht hat der an sich gründliche, aber alle Erweiterungen verschmähende Vortrag der größten Philosophen, die seit einem halben Jahrhundert in Deutschland ein Licht angezündet, worauf es sonst stolz sein kann, gar viel dazu beigetragen, dass wir in der Beredsamkeit noch so weit hinter anderen Völkern zurück geblieben sind.
Denen, welchen aufgetragen ist, die Jugend zur Beredsamkeit anzuführen, kann man nicht genug wiederholen, dass sie dieselbe fleißig, aber auch mit hinlänglicher Gründlichkeit in allen Arten der Erweiterungen üben müssen. Aber weh ihnen, wenn sie die wahre Kraft der Erweiterungen nicht fühlen; wenn sie sich einbilden, es komme nur auf die Menge der Wörter, auf bloße Wiederholung derselben Sache in anderen Ausdrücken oder Aufhäufung einer Menge nichtsbedeutender Nebenumstände an.
Wir wünschten zur Aufnahm der wahren Beredsamkeit, dass ein der Sache gewachsener Mann die Arbeit auf sich nehmen möge, diesen wichtigen Teil der Redekunst in seinem ganzen Umfang abzuhandeln. Woher kommt es doch, dass wir eine so große Menge kritischer Schriften über alles, was zur Dichtkunst gehört, haben und so sehr wenig, was der noch in der Zeugung liegenden Beredsamkeit aufhelfen könnte?
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1 Partitiones Orat.
2 S. Beweisarten S. 161 .