Erdichtung. (Schöne Künste) Ist eigentlich jede Vorstellung des möglichen als ob es wirklich wäre; hier aber werden nur diejenigen Erdichtungen betrachtet, von denen auch bisweilen der Maler den Namen des Dichters bekommt. Im allgemeinen Sinn ist jeder Mensch ein Dichter, aber nur der, welcher vorzügliche Geschicklichkeit hat, Erdichtungen von einiger Wichtigkeit zu machen, die auf die Vorstellungs- und die Begehrungskräfte mit großem Vorteil wirken, ist ein wahrer Dichter.
Die Dichtungskraft ist, wie die Einbildungskraft, eine der natürlichen Fähigkeiten des Menschen:1 ihr Werk oder ihr Geschöpf ist die Erdichtung, von deren Gebrauch in den schönen Künsten, in dem angeführten Artikel, überhaupt ist gesprochen worden. Hier wird die nähere Beschaffenheit der Erdichtungen, nach der Verschiedenheit ihres Endzwecks, zu betrachten sein.
Sie scheinen überhaupt von dreierlei Art zu sein. Man kann etwas erdichten, das dem gewöhnlichen Lauf der Natur gemäß und von dem was wirklich geschieht bloß darin unterschieden ist, dass ihm das historische Zeugnis seiner Wirklichkeit fehlt. Von dieser Art ist der gewöhnliche Stoff des epischen und des dramatischen Gedichts, der wirkliche in dem sittlichen und politischen Leben der Menschen vorkommende Fälle genau nachahmet und dabei nichts als die in der Natur wirklich vorhandenen Gegenstände und Kräfte, voraussetzt. Eine andere Art der Erdichtung ist die, wozu die wirkliche Natur nicht hinreicht, sondern eine andere Welt und zum Teil andere Wesen nötig sind, denen aber menschliche Handlungen aus dem sittlichen oder politischen Leben zugeeignet werden. Von dieser Art sind die Verwandlungen des Ovidius, die Erdichtungen in Gullivers Reisen; die Centauren und die Kyklopen der Alten, die Feenmärchen und was man überhaupt Mythologie nennen kann. Endlich ist eine noch etwas verschiedene Gattung, wodurch die unsichtbare, doch wirklich vorhandene Geisterwelt, in eine sichtbare und körperliche Welt verwandelt wird. Dahin gehören die Erdichtungen der Alten vom Elysium und dem Tartarus, die Miltonischen Erdichtungen von Himmel und Hölle und dergleichen.
Bei der ersten Art hat man die Absicht, die wirklich vorhandenen Kräfte der Natur, besonders die Seelenkräfte des Menschen, nach ihrer eigentlichen und wahren Beschaffenheit darzustellen; diese Erdichtungen sind im Grund nichts anders als Beispiele oder einzelne Fälle des wirklich vorhandenen. Ihre Eigenschaft ist Wahrheit oder die nächste Wahrscheinlichkeit, sie müssen, wie Horaz sagt, der Wahrheit ganz nahe liegen: Ficta sint proxima veris. Man muss sie für geschehene Dinge halten können, ohne dass deswegen in dem ordentlichen Lauf der Natur das Geringste dürfte verändert werden.
Sie erfordern keinen großen Grad der Dichtungskraft, aber desto mehr Verstand und Beurteilung, weil alles, bis auf das geringste darin, aus der wirklichen Natur muss hergenommen sein. Sie sind das Werk eines höchst verständigen Dichters, der eine große Kenntnis des Menschen und menschlicher Geschäfte hat. Man hält durchgehends dafür, dass im Drama nur diese Erdichtung statt hat und dass sie zum Heldengedicht nicht hinreichend sei. Es ist aber ein bloß willkürliches Gesetz, dass das epische Gedicht notwendig Erdichtungen der anderen Arten erfordere.
Der Dichter kann dabei verschiedene Absichten haben. Er will uns mit merkwürdigen Charakteren der Menschen bekannt machen oder eine der menschlichen Leidenschaften in ihrer wahren Natur völlig entwickeln; da erdichtet er Umstände, Situationen, Geschäfte und Begebenheiten, an denen sich die Charaktere oder Leidenschaften am deutlichsten in allen Äußerungen zeigen. Hierüber dürfen wir uns hier in keine nähere Betrachtung einlassen, da über diese Art der Erdichtungen in den Artikeln, welche die dramatische und epische Dichtkunst betreffen, hinlänglich gesprochen worden. Also merken wir nur noch dieses an, dass glückliche Erdichtungen von sehr genau bestimmten Situationen den Stoff zu Oden, zu Satiren, zu Elegien und anderen Dichtungsarten abgeben können, deren Schönheit sehr oft hauptsächlich von dem Wert der Erdichtung herkommt. Wer in dieser Art eine Fertigkeit erlangen will, muss ein sehr fleißiger und genauer Beobachter der Menschen sein; sie ist nur Dichtern von reiferem Alter vorzüglich eigen.
Bei der zweiten Gattung der Erdichtung hat man meistenteils die Belustigung der Phantasie zur Absicht, wo nicht die ganze Erdichtung allegorisch ist, in welchem Fall freilich höhere Absichten zum Grund liegen. Weil sie durch das neue und außerordentliche der Gegenstände die Aufmerksamkeit reizen und unterhalten, so sind sie sehr geschickt Kleinigkeiten oder bekannten Wahrheiten und Beobachtungen einen Reiz und eine Neuigkeit zu geben, durch deren Hilfe sie in den Gemütern haften, welches eine von den Wirkungen der Äsopischen Fabel ist. Wer alle Ränke eines kriechenden Höflings oder die ins unendlich kleine fallenden Torheiten einiger Stutzer und Stutzerinnen, durch die erste Gattung der Erdichtung malen wollte, könnte gar leicht langweilig werden. Aber Swifft, Pope, und unser Zachariä haben diese so kleinen Gegenstände durch Erdichtung der Lilliputer, der Silphen und Gnomen interessant gemacht. Daher kommt es, dass diese Gattung sich vorzüglich zur spöttischen Satire schickt, die meistenteils so kleine Gegenstände zu behandeln hat, dass es ohne Hilfe dieser Dichtung höchst schwer und beinahe unmöglich sein würde, interessant zu bleiben. Die größten Spötter Lucian und Swifft, sind auch die größten Meister in dieser Art: Bei der spöttischen Satire können dergleichen Erdichtungen ins Abenteuerliche fallen, wenn nur der Dichter sich in Acht nimmt, dass das Einzelne und die Nebensachen das allgemeine Gepräge und den Ton des Ganzen behalten. Nur eine reiche Phantasie, mit viel Witz und einer bestimmten und herrschenden Laune, kann in dieser Art glücklich sein; denn sie grenzt sehr nahe ans Abgeschmackte. Wer sich einbildet, dass eine ausschweifende, träumerische Phantasie allein hinlänglich hierzu sei, der irrt sehr. Man muss doch Genie genug haben, dem erdichteten Wesen eine Natur zu geben, die sich überall in so viel besonderen Fällen und Umständen auf ihre eigene Art äußert. In einzelnen Fällen kann diese Gattung zur ordentlichen Allegorie werden, von deren Wirkung und Gebrauch an seinem Ort ist gesprochen worden.
Diese Erdichtungen tragen allemal das Gepräge des Charakters und Temperaments der Dichter. Die allegorischen Personen der Griechen zeigen überall den natürlichen, freien, anmutigen, aber auch bisweilen großen und heftigen Charakter dieses Volks; ihre Götter sind erhöhte griechische Menschen. Die Erdichtungen der melancholischen Ägypter und Indianer sind melancholisch, hässlich und ausschweifend. Von ihnen kommen die ausschweifenden Erdichtungen der ungeheuren Götter und der gehörnten Teufel her. Aus ihrer Mythologie haben unsere Maler die traurigen und zugleich grotesken Bilder der höllischen Geister beibehalten. Zum Glück für die Dichtkunst hat Miltons zwar ernsthaftes, aber schönes Genie, die abenteuerlichen orientalischen Teufel in ausgeartete Engel verwandelt.
Eine genaue Betrachtung verdienen die Erdichtungen der dritten Art, besonders, wenn sie auf ernsthafte Gegenstände, den Zustand der Menschen nach dem Tod und überhaupt seine Verbindungen mit der unsichtbaren Geisterwelt, angewendet werden. Jedes Volk, das einige Begriffe von diesen wichtigen Beziehungen des Menschen gehabt, hat dieselben durch eigene Erdichtungen sinnlich zu machen gesucht. Es war leicht zu merken, dass bloß allgemeine und abgezogene Begriffe davon nicht hinlänglich auf die Gemüter wirkten; deswegen haben die Dichter aller Völker, die von diesen Dingen einige Begriffe gehabt, sie durch Erdichtungen sinnlich zu machen gesucht.
Abgezogene Begriffe von der allgemeinen Aufsicht, unter welcher die ganze Schöpfung steht, von dem guten und bösen Schicksal der Menschen nach dem Tode, haben fast gar keine Wirkung auf die Gemüter. Nichts kann demnach wichtiger sein als Erdichtungen, wodurch diese Begriffe nicht nur durch ihre Sinnlichkeit fasslich, sondern auch zugleich einleuchtend werden. Ein glückliches System solcher Erdichtungen wäre für die Religion des gemeinen Mannes unendlich besser als das beste System abgezogener Glaubenslehren und als die subtilste Schultheologie.
Klopstok scheint ein solches System ausgedacht zu haben; aber es ist nicht populär. Es setzt durch den Reichtum und den Glanz der Erdichtungen in Bewunderung, müsste aber unendlich einfacher sein, um allgemein nützlich zu werden. Der Urheber und die ersten Verbreiter der christlichen Religion haben eine sehr gute Anlage zu einem solchen System gegeben; und es ist zu wünschen, dass ein Dichter aufstehe, der das Sinnliche des christlichen Glaubens mit der Fasslichkeit und Anmutigkeit, mit der Homer die Theologie seiner Zeit in seine Gedichte eingewebt hat, in ein schönes episches Gedicht einwebte. Noch scheint das, was Bodmer in der Noachide hier und da von Erdichtungen dieser Art hat, das fasslichste zu sein, aber dabei ist das System noch zu unvollständig.
In einigen einzelnen Stücken solcher Erdichtungen ist Klopstok überaus glücklich gewesen; und man kann unter anderen seine Beschreibung von dem Tod Ischa riots im VII Gesang, für ein großes Meisterstück dieser Art halten. Hätte dieser große Dichter bei der Meßiade sein Hauptaugenmerk auf ein solches sinnliches System gerichtet und hätte er weniger auf gewisse Lehren der dogmatischen Theologie gesehen, so würde die Religion unendlich mehr dabei gewonnen haben. Doch hätte er das sonst bewunderungswürdige Feuer und den erstaunlichen Reichtum seiner Phantasie um ein merkliches mäßigen müssen. Es ist zu befürchten, dass auch das Gedicht, was Lavater angekündigt hat, eben so wenig von allgemeinem Nutzen sein werde. In Werken, die für ganze Völker bestimmt sind, muss Einfalt herrschen. Jeder gemeine Grieche konnte alles, was Homer vom Olympus, vom Tartarus und von Elysium sagt, ohne Müh begreifen.
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1 S. Dichtungskraft.