Einschnitt - Einschnitt im Gesang


Aber die Einschnitte im Gesang verdienen besonders betrachtet zu werden. Die Benennungen der Perioden, Abschnitte und Einschnitte können für den Gesang auf eine ähnliche Weise bestimmt werden, wie wir sie für die Rede bestimmt haben. Jeder Gesang muss eine Rede vorstellen, die eine gewisse Gemütsfassung der singenden Person ausdruckt. Die Periode des Gesanges ist ein solcher Teil dieser Rede, dessen Anfang und Ende fühlbar sind und der so beschaffen ist, dass man sie als eine bestimmte und auf nichts anders, weder vorhergehendes noch nachfolgendes notwendig führende Äußerung der Empfindung halten kann. Also endigt sich die Periode mit einem förmlichen Schluss oder einer ganzen Kadenz [s. Kadenz], so wohl in der Harmonie als in der Melodie und fängt auch in einem bestimmten Ton an. Der Abschnitt ist ein solcher Teil, der nur durch eine halbe Kadenz fühlbar wird, wobei entweder in der Harmonie oder in der Melodie etwas sein muss, das das Stillestehen hindert und das notwendig noch auf etwas Folgendes führt. Aus dem, was im Artikel Kadenz gesagt worden, erhellet, dass dazu entweder die Verwechslung eines Schlussakkords oder ein solcher mit beigefügter Dissonanz dienlich ist; denn in beiden Fällen wird zwar ein Ruhepunkt empfindlich gemacht, zugleich aber das wirkliche lange Ruhen oder die Befriedigung gehindert. Der letzte Ton der Melodie muss nicht die vollkommenste Konsonanz, nämlich die Oktave, sondern die Quinte oder noch besser die Terz oder Sexte sein. Der Einschnitt aber muss nicht in der Harmonie, sondern bloß in der Melodie, fühlbar sein und keine Art der Kadenz hat dabei statt. Das Ohr fühlt dabei das Ende einer melodischen Figur, durch einen mit Akzent versehenen, etwas anhaltenden, mit dem Grundton konsonierenden Ton, auf den allenfalls eine kleine Pause folgt, da der Bass ohne alle Aufhaltung seinen ebenen Gang fortgeht. Diese kleinen Einschnitte fallen in die schlechte Zeit des Takts, damit das Ohr desto gewisser fühle, dass der Ruhepunkt nur für einen Augenblick sein soll.

Durch Einschnitte und Abschnitte bekommt die Rede wie der Gesang ihre Gelenke und wird der sinnlichen Vorstellung angenehmer und fasslicher. Aber es gehört ein feiner Geschmack dazu, diesen Vorteil nicht zu missbrauchen. Gesang und Rede, denen Ein- und Abschnitte fehlen, werden steif; aber zu viel Abschnitte, zu schnell hinter einander folgende, zu stark abgesetzte Einschnitte, machen sie gleichsam lahm. In diesen Fehler verfallen die Schriftsteller, die sich zu sehr nach einigen neueren Franzosen bilden, denen es zu schwer scheint, mehr als zwei oder drei Begriffe in eine Periode zusammen zu bringen. Auch unseren Tonsetzern ist dieser Fehler nur gar zu gewöhnlich; sie häufen Schluss auf Schluss, so dass manches Tonstück mehr eine Folge einzelner kaum zusammenhängender als wirklich verbundener und aus einander folgender Gedanken ist.

In Gesangsstücken ist es durchaus notwendig, dass die Einschnitte des Gesanges mit den Einschnitten der Rede genau übereintreffen; denn der Gesang muss die Gedanken des Textes ausdrücken, daher im Gesang eher kein Einschnitt kommen kann, bis im Text ein Einschnitt in den Gedanken ist. Dieses macht die Erfindung der Melodie noch weit schwerer als sie sonst sein würde. Denn oft hat der Tonsetzer eine dem Affekt sehr angemessene Melodie gefunden, die aber leicht Einschnitte haben kann, wo der Text keine leiden will. So hat unser Graun zu der Arie in dem Festi galante, welche anfängt: Dalla bocca del mio Bene – eine der Empfindung auf das vollkommenste angemessene Melodie gefunden, die aber gleich auf dem ersten Vers zwei kleine Einschnitte hat, die den Worten des Textes ganz zuwider sind. Wenn also so große Meister der Kunst in diesem Stück Fehler begehen, so mögen die, die weniger Fertigkeit haben, alle Hindernisse zu übersteigen, sich hierin die äußerste Sorgfalt angelegen sein lassen. Die Vorsichtigkeit erfordert, dass der Tonsetzer, ehe er an die Melodie denkt, den Text auf das vollkommenste zu deklamieren suche und erst, wenn er dieses gefunden hat, einen dem richtigsten Vortrag völlig angemessenen Gesang zu erfinden sich bemühe.

Es lässt sich hieraus leicht abnehmen, dass die aus viel Strophen bestehenden Lieder nicht wohl Melodien haben können, die sich auf alle Strophen schicken. Denn auch in den nach alter Art verfertigten Liedern, da jeder Vers einen Einschnitt in den Gedanken macht, trifft es sich doch, dass bisweilen die kleinsten Einschnitte mitten in den Versen in einer Strophe anders als in den übrigen stehen. Alsdann kann die Melodie unmöglich auf alle passen. Ode aber, die in Horazischer oder anderen griechischen Versarten abgefasst sind; da die Einschnitte der Gedanken in jeder Strophe anders sind, können auf keinerlei Weise anders in Musik gesetzt werden als dass jede Strophe ihren besonderen Gesang habe [s. Lieder].


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