Enharmonisch

Enharmonisch. (Musik) Hieß bei den Griechen die Tonleiter, in welcher das Tetrachord oder die Quarte so geteilt war, dass die zwei ersten Intervalle kleiner als halbe Töne waren. Nach dem Aristoxenus wurde der große halbe Ton, in unserem System z. B. H - c in zwei gleiche Teile geteilt und die Quarte H - E, bestand aus vier Tönen, davon die drei ersten zwei gleiche Intervalle von Vierteltönen, die zwei letzten aber einen Ditonus1 machten. Ptolemäus gibt folgende Verhältnisse für das enharmonische Tetrachord an, 45/46, 23/24, 4/5, das ist, wenn die Länge der tiefsten Saite z. B. H, 1 gesetzt wird, so würden die vier Saiten des Tetrachords diese Längen haben: Da wir in der heutigen Musik den Gesang nie durch so kleine Intervalle fortführen, so können wir auch nicht fühlen, was für Wirkung ein solcher Gesang könne gehabt haben. Unser Ohr ist so sehr gewohnt den kleinen halben Ton für die kleinste Stufe der Fortschreitung zu halten, dass mancher sich einbildet, der enharmonische Gesang der Alten könne keine Deutlichkeit gehabt haben. Allein der Schluß ist nicht richtig. Das Ohr kann, wie andere Sinne, durch Übung eine Fertigkeit erlangen, auch die kleinsten Intervalle genau zu unterscheiden. Aristides Quintilianus sagt, dass der enharmonische Gesang der lieblichste gewesen sei und Plutarchus verweißt es den Tonkünstlern seiner Zeit, dass sie die schönste von den drei Arten des Gesanges, das Enharmonische, haben in Abgang kommen lassen. Man sieht aus dem, was er davon sagt, dass schon zu seiner Zeit dieser Gesang für unmöglich gehalten worden2. Aristoxenus sagt, dass die Alten bis auf die Zeit des Alexanders sich bloß an dieser Art gehalten, und das diatonische, wie das chromatische nicht geachtet haben. Ohne Zweifel war es sehr schwer und die Sänger werden allein durch fleißige Übung nach dem Monochord es dahin gebracht haben, diese kleinen Intervalle genau zu treffen.

 Ob wir gleich in unserer Musik das Enharmonische in dem Gesang verloren, so haben wir etwas Ähnliches oder doch etwas, dem wir denselben Namen geben, in der Harmonie beibehalten, wo die enharmonischen Ausweichungen oft gebraucht werden. Das Enharmonische in der heutigen Musik hat dieses sonderbare, dass es gewisser Maßen nur in der Einbildung besteht und dennoch große Wirkung tun kann. Wir stellen uns vor als wenn wir in unserer Tonleiter die enharmonischen Intervalle haben und geben einer Saite in der Einbildung mehr als einen Ton und brauchen dasselbe Intervall, z. B. gewisse kleine Terzen, einmal als Terzen und dann gleich darauf als Sekunden und machen auf diese Art enharmonische Ausweichungen.

 Um dieses deutlich zu verstehen, muss man die Beschaffenheit unseres Systems vor Augen haben.3 Daraus erhellet, dass zwar jede Saite desselben als eine Tonika oder als der Grundton, der seine völlige doppelte diatonische Tonleiter so wohl der harten als der weichen Tonart in dem System hat, angesehen werde. Weil wir aber dazu viel zu wenige Saiten haben, so ersetzen wir diesen Mangel dadurch, dass wir die vorhandenen Töne, wenn sie nicht zu weit von den eigentlichen, die wir nötig haben, abweichen, auch an ihrer Stelle brauchen. So hat z. B. der Ton C zwar seine völlige diatonische Tonleiter in der harten Tonart, auf unserem System; hingegen fehlt es ihm zur weichen Tonart an der wahren kleinen Terz 5/6; an deren Stelle nehmen wir die vierte Saite unseres Systems, die reine Quarte des Tones B, ob sie gleich gegen C nur ein Intervall von 27/32 ausmacht, und also um ein Komma zu niedrig ist. Weil nun die große Terz zu C den Namen E führt und die kleine durch b E bezeichnet oder Es genannt wird, so hat die vierte Saite unseres Systems zwei Namen und heißt so wohl Dis als Es und so ist es mit viel anderen Intervallen beschaffen. Wenn man nun jeder der zwölf Saiten unseres Systems seine völlige harte und weiche Tonleiter geben wollte, so müsste man anstatt 12 Saiten in der Oktave, 21 haben. Man behilft sich inzwischen mit den Zwölfen, gibt ihnen aber diese 21 Namen, weil 9 Saiten doppelte Namen haben, c, cis, des, d, dis, es, e, eis, fes, f, fis, ges, g, gis, as, a, ais, b, h, his, ces.

 Allgemein nennt man dieses das diatonisch-chromatisch-unharmonische System: im Grund aber wäre es, wenn auch alle Saiten vorhanden wären, nichts als ein aus 12 harten und eben so viel weichen in einander geschobenen diatonischen Tonleitern zusammengesetztes System. Einige nennen die Töne, für die keine besondere Saiten im System sind als des, es, fes u. s. f. enharmonische Töne, aber mit Unrecht, weil sie wahre diatonische Stufen einer Tonika sind. Nur die kleinere Fortschreitungen, die sie geben würden, werden enharmonische Fortschreitungen genannt.

 Damit man deutlich begreift, wie in unserer Musik, ob uns gleich die kleinen enharmonischen Intervalle wirklich fehlen, dennoch enharmonische Fortrückungen möglich sind, muss man überhaupt bemerken, dass ein und eben derselbe Ton, nach Beschaffenheit der Harmonie, womit er verbunden ist, uns bald höher, bald tiefer vorkommt, weil das Gehör sich selbst täuscht. Wenn wir Cis im Dreiklang des Adur hören, so machen die übrigen Töne, dass es uns, wie die reine große Terz von A und also wie wenn seine Saite 12/25 wäre, klingt. Dieselbe Saite als die kleine Terz von B, scheint uns auch rein zu klingen als wenn ihre Länge 15/32 wäre. Aber jene Höhe macht mit dieser ein Intervall von 125/128 aus. Dieses ist das eigentliche enharmonische Intervall, um welches man das Ohr täuschen kann. Daher kommt es, dass folgende Fortschreitung welche mit dieser völlig einerlei ist: durch richtige Behandlung der Harmonie, eine ganz andere Wirkung tut, als die letztere und fast eben die, die sie tun würde, wenn unser System die kleinen enharmonischen Intervalle wirklich hätte.

  Es kommt also nur darauf an, dass der Tonsetzer die rechte Behandlung solcher enharmonischer Fortschreitungen verstehe. Da diese Materie allgemein von den Tonlehrern sehr kurz und dunkel vorgetragen wird, so ist nötig, um die Sache aus den ersten Gründen herzuholen, dass wir hierüber uns etwas umständlich einlassen.

 Wenn man, auf welchem Ton es sei, den Septimenakkord mit der kleinen None nimmt, so hat dieser Akkord die sonderbare Eigenschaft, dass, da er aus vier über einander liegenden kleinen Terzen besteht, er auch vier verschiedene wahre Grundtöne haben kann, deren jeder als die Dominante eines Tones, kann angesehen werden, in welchen man durch die Auflösung der Dissonanzen unmittelbar schließen kann; und darin liegt der Grund der enharmonischen Fortrückungen und Ausweichungen. Um dieses deutlich zu verstehen, betrachte man folgende vier Akkorde. Alle diese Akkorde sind in den oberen Stimmen gleich, sie bestehen aus denselbigen Saiten; nur bekommen sie in anderen Akkorden andere Namen. Was im ersten und vierten Akkord b ist, ist im zweiten und dritten das erhöhte a oder ais; was im ersten und zweiten Akkord cis ist, ist im vierten des oder das erniedrigte d u. s. f.

  Weil nun im Septimenakkord auf der Dominante die große Terz allemal das Subsemitonium der Tonika ist, dahin man schließen kann, so darf man nur jeden der vier oberen Töne des ersten Akkords als die große Terz eines Grundtons ansehen, um die vier verschiedenen Grundtöne zu diesem Akkord zu finden. Im ersten Akkord ist es Cis, folglich ist der Grundton A; im anderen Akkord ist es ais, folglich der Grundton Fis; im dritten wird G als die große Terz angesehen, das hier als ein erhöhtes fis angesehen wird oder ( f, folglich ist der Grundton Dis; im vierten endlich wird e als die große Terz angesehen, daher der Grundton C wird.

Hieraus ist offenbar, dass dieser Akkord ein Septnonenakkord vier verschiedener Grundtöne sein kann, des A, des C, des Dis und des Fis.

Folglich kann man aus diesem einen Akkord in viererlei Töne schließen. Als Septimenakkord von A, schließt man daraus nach D mol; als Septimenakkord von C, nach F mol; als Septimenakkord von Dis, nach Gis mol; als Septimenakkord von Fis, nach H mol.4

  Da nun aber die oberen Töne in allen vier Fällen dieselben bleiben, so kann man mit einer kleinen Veränderung aus einem Ton anstatt in seine eigene Tonika zu schließen, in die Tonika eines der drei anderen schließen, also z. B. aus A in H, wie hier. Der erste Akkord ist eigentlich der Septnonenakkord von A in seiner ersten Verwechslung,5 wo die gewesene kleine None zur kleinen Septime wird. Weil nun eben diese Harmonie, wenn man nur den Tönen andere Namen gibt, auch auf den Grundton Fis passen kann, so nimmt man im zweiten Akkord die zweite Verwechslung des Akkords Fis, damit im Basse cis liegen bleiben könne; und nun geschieht der Schluss durch die ordentlichen Auflösungen in H.

  Durch die im zweiten Akkord mit der Saite b vorgenommene Veränderung ist sie, da sie im ersten Akkord die Septime war, die unter sich nach a hätte gehen müssen, zur übermäßigen Sexte worden, die nun über sich in h tritt. Dieses ist also ein enharmonischer Übergang, dessen Wesen darin besteht, dass eine Dissonanz in zwei hinter einander folgenden Akkorden, in zweierlei Gestalt erscheint und dadurch ihre Natur so ändert, dass sie eine andere Auflösung, wodurch man auch in einen ganz anderen Ton schließen kann, bekommt.

So hätte man auch durch eine andere enharmonische Veränderung aus A den Schluss in Gis mol machen können; nämlich auf diese Art: da im zweiten Akkord, wo Dis der eigentliche Grundton ist, dessen dritte Verwechslung6 genommen wird. Hier wird, was im ersten Akkord g war als ein erhöhtes fis angesehen und wird dadurch zum Subsemitonio der Oktave des folgenden Grundtons.

 Man wird also von der wahren Beschaffenheit der enharmonischen Gänge einen richtigen Begriff bekommen, wenn man sie als solche, mit einem Akkord, ohne seine Saiten auf dem Klavier zu verändern, vorgenommene Abänderungen ansieht, wodurch er tüchtig wird, den Schluss in einen anderen Ton zu lenken, welches ohne diese Veränderung nicht hätte geschehen können. Wenn also dieses ein ordentlicher Schluss nach C mol wäre; so wird durch die, im folgenden stehenden Beispiel im dritten Akkord vorgenommene enharmonische Veränderung der Schluss nach A mol bewirkt. Überhaupt also entstehen die enharmonischen Gänge aus einer Verwechslung des Septnonenakkordes, darin die None bis in die folgende Harmonie liegen bleibt und dort eine enharmonische Rückung tut, wodurch sie zum Intervall, meistenteils zum Subsemitonio, einer anderen Tonart wird, in welche der Schluss geschieht. Also ist in dem mit A bezeichneten Beispiel, der erste Akkord die erste Verwechslung des Akkords der Septime und None auf A, da die gewesene None nun die Septime wird. Anstatt, dass diese, nach der gewöhnlichen Art der None, auf derselben Harmonie sich auflösen sollte7, bleibt sie bis auf die folgende Harmonie liegen, wo sie jetzt durch die kleine enharmonische Veränderung des b in ais zur übermäßigen Sexte wird und als Subsemitonium des nächsten Tones im folgenden Akkord in die Höhe tritt.

In dem mit B bezeichneten Beispiel, ist der erste Akkord, wie in dem vorhergehenden die erste Verwechslung des Akkords A; die kleine Septime oder gewesene None, bleibt ebenfalls liegen und wird auf dem nächsten Akkord durch dieselbe enharmonische Veränderung zur großen Sexte und was G war, wird nun als ein erhöhtes Fis angesehen. Hier ist der eigentliche Grundton Dis mit der Septime, die durch die dritte Verwechslung in den Bass gekommen ist.

 In dem dritten Beispiel C, ist der eigentliche Grundton des zweiten Akkords der Ton G, dessen kleine None der oberste Ton as ist und dessen Septime in den Bass gesetzt worden. In dem nächsten Akkord wird dieses as in gis verwandelt, wodurch es zum Subsemitonio der Oktave des nächsten Haupttons wird.

 Da bei allen diesen enharmonischen Gängen der ursprüngliche Septnonenakkord nie selbst, sondern immer in einer Verwechslung genommen wird, so kann die None ihren Namen nicht behalten und wird in der ersten Verwechslung des Akkords zur kleinen Septime. Dadurch ist Roußeau8 verführt worden, diesen Akkord der kleinen Septime für einen Grundakkord zu halten und es zu übersehen, dass die Septime darin nur ein Vorhalt der Sexte ist, die aus einem verwechselten Nonenakkord kommt. Die wahre Septime, die wir auch die wesentliche nennen9, ist von der Natur, dass die Harmonie von dem Akkord, wo sie sich befindet, allemal fünf Töne fallen oder vier Töne steigen muss, wie an seinem Orte bewiesen wird.

 Es ist oben angemerkt worden, dass auf unseren Klavieren und Orgeln die enharmonischen Rückungen nicht fühlbar sind, in dem z. B. gis und as nur eine Saite oder nur eine Pfeife haben. Dieses hindert aber nicht, dass man die kleine Rückung um das Intervall 125/128 wegen des Einflusses der übrigen zur Harmonie gehörigen Töne, nicht empfinden sollte. Diese Empfindung ist so gewiss, dass gute Sänger eine wirkliche Rückung in der Stimme machen. Wenn ein Sänger, da er den Grundton F hört, die kleine Terz as dazu singt, danach aber im Bass anstatt F, der Ton E mit der reinen Quinte h genommen wird, so ist ihm nicht möglich das as noch länger beizubehalten. Es macht gegen E eine verminderte Quarte und gegen h, womit sein Ohr gerührt wird, eine übermäßige Sekunde: dieses bewegt ihn einen so übel harmonierenden Ton fahren zu lassen und gis als die reine Terz von E zu nehmen. Also geschieht eine wirkliche kleine enharmonische Rückung in seiner Stimme und eben dieses tun auch die guten Spieler.

 Aus der Entwicklung der eigentlichen Beschaffenheit der enharmonischen Übergänge lässt sich schon abnehmen, wo sie können gebraucht werden. Nämlich (1 da, wo man plötzlich von einem Ton in einen sehr entfernten oder sehr abstechenden, ausweichen muss, wie in Rezitativen oft geschieht, da eine Person etwas fröhliches sagt und unversehens von einer anderen, die etwas verdrießliches anzubringen hat, unterbrochen wird. (2 In dem Gesang selbst, beim Ausdruck solcher Leidenschaften, die etwas Schmerzhaftes haben oder schnell eine andere Wendung nehmen.

 

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1 S. Ditonus.

2 S. Plut. von der Musik c. 17.

3 S. System.

4 S. Kadenz und Ausweichung.

5 S. Verwechslung oder Dreiklang.

6 Nämlich da die Septime in dem Bass kommt. S. Septimenakkord.

7 S. Vorhalt.

8 Diktion. Art. Enharmon .

9 S. Septime.

 


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